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Wanderung: Der Schrittmacher

Ein Mann, ein Plan: Christoph Becker absolvierte seinen Zivildienst in London. Den Heimweg nach Berlin trat er zu Fuß an

Der Schmerz wird mit jedem Schritt größer, doch bald ist es geschafft. Den ganzen Tag schon laufe ich die Straßen entlang auf dem Weg zur Fähre in Harwich, die mich nach Holland bringen wird. Der harte Asphalt ist eine Qual für meine Füße, trotz dicker Wollsocken und Wanderschuhe.

Mit jedem Meter, den ich hinter mir lasse, mit jedem Tropfen Schweiß, der mir von der Stirn rinnt, steigen die Zweifel. Noch vor kurzem habe ich mir das Ganze etwas anders vorgestellt. „Einfach mal machen!“, dachte ich, als ich in einem schmalen Zimmer im Doppelstockbett lag und mit meinen Gedanken die Weite suchte. So frei wie Gedanken sein können, ist mir einer gekommen, der mich nicht mehr los ließ.

Es war die Idee von drei Ländern, 18 Kilo Gepäck auf dem Rücken und mehr als 1000 Kilometern Fußweg. Es würde mich ungefähr 860 000 Schritte kosten, um von London nach Berlin zu kommen. Für England besaß ich eine Landkarte, ab den Niederlanden würde ich mich anders orientieren müssen.

Im Juli vergangenen Jahres stieg ich ins Flugzeug nach London, um für acht Monate meinen Zivildienst in einem Ferienheim für Behinderte abzuleisten. Ich lebte in dieser Zeit in Chigwell, einem Vorort von London. Die Jugendlichen, die freiwillig in dem Heim halfen, kamen aus aller Welt. Wir wohnten in kleinen, spartanisch eingerichteten Zimmern. Oft saß man beisammen und ließ die Gedanken abschweifen von der Arbeit. Damals hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich mal zu Fuß nach Hause gehen würde.

Natürlich hätte ich mir auch einfach ein Ticket für den Rückflug kaufen können. Ich hätte in zwei Stunden zu Hause sein und bei Café und Kuchen von meiner Zeit in England erzählen können. Stattdessen aber wollte ich Tag für Tag ein kleines Stück der Strecke bewältigen. Es ist ein zeitaufwendiges Unterfangen, das Knie und Rücken stark beansprucht. Und nebenbei noch viel mehr kostet – am Ende knapp 500 Euro und damit mehr als das Zehnfache dessen, was ich für den Hinflug bezahlt hatte.

Meine Freunde lachten, als ich ihnen von meinem Plan erzählte und hielten mich für verrückt. Ich ignorierte ihre Bemerkungen, mein Abenteuerdrang war groß. Um der Ungewissheit, die mich auf meiner Wanderung erwartete, nicht komplett ausgeliefert zu sein, überlegte ich mir sehr genau, was ich unterwegs brauchen würde. Einen Monat im Voraus begann ich mit der Planung. Auf Rat meiner wanderbegeisterten Großeltern legte ich mir einen Vorrat an Müsliriegeln zu. Zudem besorgte ich mir mehrere Packungen des Universalheilmittels Paracetamol, Vitamintabletten, Blasenpflaster und eine Taschenlampe. Am Piccadilly Circus kleidete ich mich professionell ein, um wettermäßig gerüstet zu sein. Mein Vater schenkte mir ein Outdoor-Handy mit integriertem Kompass.

Für meine Wanderung war ich besser vorbereitet als Roald Amundsen, der berühmte norwegische Polarforscher. An einem trüben Märzmorgen sollte es losgehen. Zum Frühstück aß ich Rührei mit Würstchen und Speck, um genügend Energie für den Tag zu haben. Ein Abschiedsfoto mit meinen Freunden, dann stand ich auch schon draußen. Es war typisch englisches Wetter: Die Wolken hingen tief und dicht.

Mit dem Tunnelblick eines 100-Meter-Sprinters lief ich meine ersten 35 Kilometer. Hauptsächlich entlang der Straßen, an denen Autos an mir vorbeirasten, die für mein Tagespensum 20 Minuten brauchten. Für die Strecke bis Chelmsford, meinem ersten Zwischenstopp, benötigte ich acht Stunden und 30 Minuten. Erschöpft betrat ich das erstbeste Restaurant, ließ mich in einen Sessel fallen. Nun hieß es nur noch, ein Bett zu finden.

Da ich weder Smartphone noch Internet-Zugang besaß, bediente ich mich des realen Social-Networks und fragte mich einfach durch. An der Universität gab es keinen Platz mehr für mich. Dafür empfahl mir eine ältere Dame eine billige Bleibe in der Nähe. Eine Qualitätsprüfung des Zimmers war völlig ausgeschlossen: Ich war einfach nur froh, ein Dach überm Kopf zu haben und schlief diese Nacht tief und fest.

Ähnlich gestalteten sich die kommenden Tage. Ich stand früh auf, frühstückte und brach spätestens um neun auf. Innerhalb von drei Tagen erreichte ich Harwich. Von dort aus setzte ich abends um elf mit der Fähre nach Holland über. Meine Schiffskabine war die komfortabelste Unterkunft auf der ganzen Tour. Die Passagiere wurden am Morgen mit Musik geweckt. Halb acht liefen wir in Hoek van Holland ein, einem Stadtteil von Rotterdam.

Ich befand mich nun im Land der Radfahrer. Überall, wo ich hinsah: Radfahrer. Der Durchschnittsbürger, so erfuhr ich im Gespräch mit den Einwohnern, besitzt mindestens zwei Fahrräder. Das ganze Land, so schien es mir, besteht aus asphaltierten Radwegen. Für mein Vorhaben war das nicht dienlich: Wegen des harten Untergrunds schmerzten meine Füße, von oben drückte der schwere Rucksack. Das Aufgebot an unabgeschlossenen Fahrrädern war groß. Und verführerisch. Du bist jung und flexibel, pass dich deiner Umgebung an, dachte ich. Nach drei Testläufen hatte ich das perfekte Rad gefunden. Ich kam nun schneller voran. Die Landschaftsbilder wechselten häufiger, die Kilometerzahlen auf den Wegweisern verkleinerten sich rasant.

Unterwegs lernte ich unterschiedliche Leute kennen. Eine Nacht kam ich bei einem älteren Ehepaar unter, am nächsten Abend bot mir eine Studentin die Gästecouch in ihrer WG an. Die Mitbewohner folgten gespannt meiner Erzählung, gemeinsam tranken wir Bier. Ich legte meine Beine hoch, genoss das Dasein.

Nach acht Tagen erreichte ich die Grenze zu Deutschland – Münster war mein erster Stop auf heimischem Boden. Ich spürte immer deutlicher, wie die Tour an meinen Kräften zehrte. Trotzdem wollte ich nicht aufhören. Bielefeld war mein Ziel und knapp 60 Kilometer entfernt, eigentlich nicht weit. Ich trat in die Pedalen. Als ich nicht mehr konnte, hielt ich an einem Bauernhof an, ließ mich auf die Wiese fallen. Mein Körper schmerzte, mein Kopf glühte: Ich spürte eine Erkältung in mir aufsteigen.

Weiterfahren kam für mich nicht in- frage. Zwar hatte ich mir zum Ziel gesetzt, die Strecke aus eigener Kraft zu bewältigen – aber gesundheitliche Schäden wollte ich nicht riskieren. Ich nutzte die öffentlichen Verkehrsmittel, um nach Bielefeld zu gelangen und genoss den neuen Luxus.

Langsam verließ mich der Abenteuerdrang. Dafür stieg in mir die Sehnsucht nach einem Ort, an dem ich länger bleiben konnte als eine Nacht. Der Rucksack wurde immer schwerer – es schien ihn nicht zu interessieren, dass ich nach und nach Ballast abließ.

Einen Tag blieb ich in Bielefeld, länger hielt ich es nicht aus. Am Nachmittag stellte ich mich an eine Tankstelle in der Nähe der Autobahn. Von meinem rostigen Damenrad verabschiedete ich mich. Eine knappe Stunde später hatte ich eine Mitfahrgelegenheit für die restlichen 400 Kilometer. In einem Kleinbus erzählte ich fünf gespannt lauschenden Ohrenpaaren von meinen Erlebnissen, während wir Richtung Berlin fuhren. Dreieinhalb Stunden später stand ich unangekündigt vor der Wohnungstür meiner Eltern. Mein Handy-Guthaben war alle, so dass ich ihnen nicht Bescheid geben konnte. Verdattert öffneten sie mir. Es war kurz nach neun. Am nächsten Tag würde ich Geburtstag haben und 19 werden.

Ich bekam gleich etwas zu essen vorgesetzt – es war schön, endlich wieder daheim zu sein. Natürlich wollten meine Eltern sofort wissen, wie es mir die letzten Tage ergangen war. Ich gab ihnen eine Kurzversion und sank wenig später in mein weiches, wohlig duftendes Bett.

Am nächsten Tag setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann, mich für einen Studienplatz zu bewerben. Und jetzt, knapp zwei Wochen nach meiner Rückkehr, sind allmählich auch die Blasen an meinen Füßen verheilt.

Christoph Becker

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