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Gelbe Sterne auf blauem Grund - für Jugendliche ist das grenzenlose Europa völlig normal.

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Grenzenlos: Was Jugendliche über Europa denken

Die Regierungschefs der EU-Länder entscheiden über die Zukunft des Euro. Scheitert die Währung, scheitert Europa, sagt Kanzlerin Merkel. Sich frei bewegen, mit einer Währung zahlen - für Jugendliche in Europa ist das selbstverständlich.

Grenzenlos

Was bedeutet die Europäische Union für uns Jugendliche? Bis vor kurzem habe ich noch nicht einmal darüber nachgedacht, dass es die EU gibt und Deutschland einen wichtigen Teil davon ausmacht. Erst, als wir im Politikunterricht ihre Geschichte und aktuelle Struktur angeschaut haben, ist mir klar geworden, wie wichtig die EU ist und wie lange es gedauert hat, bis sie so wurde, wie sie heute ist. Das Schengenabkommen zum Beispiel: Ich kenne es nicht anders, als innerhalb Europas ohne Visum umherreisen zu können. Meistens merke ich noch nicht einmal, wenn ich über eine Grenze fahre. Die EU bedeutet für eine 19-jährige Schülerin vor allem eins: Freiheit. Ich kann mir aussuchen, in welchem Land innerhalb Europas ich zur Schule gehen oder studieren möchte. Schüleraustausch wird durch die EU unterstützt, so dass man ohne Probleme für drei Monate nach England gehen kann. Eine französische Freundin von mir hat nach ihrem Schüleraustausch beschlossen, ihr Abitur nicht in Frankreich zu machen, sondern hier.

Alina Stöver, 19 Jahre
Alina Stöver, 19 Jahre

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In Berlin ist die EU auch durch die vielen Europaschulen präsent, wo von Anfang an zweisprachig unterrichtet wird und Schüler aus unterschiedlichen Ländern zusammen lernen. Ich glaube, gerade viele von uns Schülern verbinden mit der EU kulturelle Aktivität und sozialen Zusammenhalt. Obwohl in den Medien im Moment nur über die Rettung des Euros berichtet wird, ist das für mich ein sehr wichtiger Aspekt, den sich der ein oder andere frustrierte Europakritiker mal wieder vergegenwärtigen sollte. Die EU bedeutet nämlich Toleranz und globales Denken über die eigenen Ländergrenzen hinaus – auf dem Weg zu einer verantwortungsvolleren Welt. Alina Stöver, 19 Jahre

Seite 2: Symbol für Weltoffenheit - von Roberta Huldisch, 17 Jahre

Roberta Huldisch, 17 Jahre
Roberta Huldisch, 17 Jahre

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Symbol für Weltoffenheit

Als im Januar 2002 die ersten Euromünzen in Umlauf gebracht wurden, war ich sieben Jahre alt und sammelwütig. Meine Mutter rechnete im Supermarkt reflexartig jeden Preis in D-Mark um und reihte sich in den Chor der „Alles wird teurer!“-Seufzer ein; ich pflegte hingebungsvoll meine Euro-Sammelhefte. Ich war nicht allein: Der Schulhof-Tauschhandel boomte. Ausländische Euromünzen waren so begehrt wie später Diddl-Blätter oder Pokémon-Karten – die ultimativen Sammelobjekte jeder 2000er-Kindheit.

Die nahezu unerreichbare Trophäe eines jeden Euro-Begeisterten war damals eine Münze aus den europäischen Kleinstaaten. Es schien aber, als hätte noch nie eine von ihnen den Weg zu uns nach Deutschland gefunden. Als wir in den Ferien nach Südfrankreich fuhren, machten wir also einen Ausflug nach Monaco. Doch so gründlich ich auch mein Wechselgeld durchsuchte, ein monegassischer Euro war nie dabei. An diesem Tag begriff ich, dass man sich mit seltenen Münzen nicht nur den Neid der Mitschüler verdienen kann: Professionelle Sammler hatten sich alle unter den Nagel gerissen.

Heute ist es nichts Besonderes mehr, eine ausländische Münze im Portemonnaie zu finden. Die anfängliche Begeisterung über die neue, grenzübergreifende Währung ist einer Alltäglichkeit gewichen, die gelegentlich auch in Verdrossenheit umschlägt. Wie unentbehrlich eine gemeinsame Währung vor allem für meine Generation ist, wird erst klar, wenn man versucht, sich ein Europa ohne sie vorzustellen. Der Euro ist zum Symbol für Reisefreiheit geworden, für Weltoffenheit, für einen vereinfachten Austausch zwischen den Kulturen.

Während an der D-Mark Geschichte und Nostalgie haften, steht der Euro für Zukunft und Grenzenlosigkeit.

Meine mühsam angehäufte Euro-Sammlung habe ich übrigens eines Tages einfach ausgegeben. Obwohl ich insgeheim immer noch hoffe, dass ich irgendwann, beim Bäcker oder an der Supermarktkasse, eine monegassische Münze in die Hand gedrückt bekomme. Roberta Huldisch, 17 Jahre

Seite 3: Patriotismus? Nein danke! - von Leon Redlinger, 16 Jahre

Laurence Isabelle Stroedter, 17 Jahre
Laurence Isabelle Stroedter, 17 Jahre

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Patriotismus? Nein danke!

Patriotismus bezeichnet eine tiefe emotionale Verbundenheit mit der eigenen Nation, also quasi eine starke Liebe und Treue zum eigenen Heimatland. Es gibt sicherlich einige Menschen, die genau diese Gefühlslage und Verbundenheit mit Deutschland pflegen. Sie sind stolz Deutsche zu sein und zeigen das, indem sie beispielsweise eine schwarz-rot-goldene Flagge vom Balkon hängen. So schön dieses Gefühl für diese Menschen auch sein mag – mit dem Patriotismus und seinen Schattenseiten muss man sich meiner Meinung nach deutlich kritischer auseinandersetzen. Ich glaube, Patriotismus ist eine gefährliche Gefühlslage, die sich nicht immer vom Nationalismus trennen lässt.

Wahrscheinlich hat der Patriotismus auch positive Seiten. Aus Verbundenheit zur eigenen Nation könnte man sich zum Beispiel an sozialen Projekten beteiligen, um sein Heimatland sozial gerechter zu gestalten. Ich finde, man sollte sich dabei allerdings immer auch klarmachen, dass Patriotismus schnell zu Abgrenzungen führen kann. Patrioten neigen dazu, sich anderen Nationen überlegen zu fühlen. Dann ist man gleich bei Ausgrenzungen und Diskriminierungen, und die Trennlinie vom Patriotismus zum Nationalismus wird immer weiter verwischt. Außerdem sollte man die Bedeutung des Begriffs Stolz nicht unterschätzen. Ein Patriot ist stolz auf sein Land und sagt das auch bereitwillig.

Aber kann man wirklich auf etwas stolz sein, für das man nichts kann und für das man nichts getan hat? Man kann sich sein Heimat- und Geburtsland ja nicht aussuchen. Man wird hineingeboren und muss dann mehr oder weniger damit leben.

Stolz kann man sein, wenn man eine gute Note in der Schule geschrieben oder ein Tor in seinem Fußballverein geschossen hat. Aber auf sein Land stolz sein? Ich kann definitiv sagen, dass ich nicht stolz bin, Deutscher zu sein.

Ich will keinem Menschen vorschreiben, wie er oder sie zu seiner Nation stehen soll. Ich plädiere lediglich dafür, sich kritisch mit dem Patriotismus auseinanderzusetzen. Ich war früher auch stolz Deutscher zu sein. Mittlerweile sehe ich das anders. Patriotismus? Nein danke! Leon Redlinger, 16 Jahre

Seite 4: Stolz muss sein – von Viktor K., 17 Jahre

Anna Dissmann, 17 Jahre
Anna Dissmann, 17 Jahre

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Stolz muss sein

Heißt Europa, dass ich nicht mehr auf Deutschland stolz sein kann, sondern auf die gesamte europäische Union stolz sein muss? Bedeutet ein Ja zu Europa automatisch das Ende für jeglichen Landespatriotismus? Viele scheinen zu glauben, man müsse die nationale Identität aufgeben, um wirklich Europäer sein zu können.

Aber das muss gar nicht so sein. In Deutschland klingen die Begriffe Patriotismus und Nationalstolz negativ. Das hängt natürlich sehr stark mit der deutschen Vergangenheit und vor allem mit dem Nationalsozialismus zusammen. Und weil niemand als Nazi bezeichnet werden will, entfernt man den Begriff „Patriot“ besser gleich ganz aus dem Sprachgebrauch. Patriotismus ist aber doch eigentlich etwas Positives. Er beinhaltet nämlich nicht bloß den Stolz auf die eigene Nation, sondern auch Verbundenheit und Verantwortung für das Land.

Wenn sich jeder Deutschland verbunden und für Deutschland verantwortlich fühlen würde, wäre das doch ein großer Gewinn. Patriotismus kann also auch als Motivation für Fortschritt verstanden werden.

Und auch wenn ich deutscher, französischer oder englischer Patriot bin, kann ich gleichzeitig Europa unterstützen. Auf sein Land stolz zu sein, Verbundenheit und Verantwortung zu zeigen, heißt doch nicht, dass man für Europa nicht ganz genau das Gleiche empfinden kann. Da Deutschland und Frankreich und England ja Teilmengen sind, die erst zusammen das große Europa ergeben, würde ich sogar behaupten, dass ohne Landespatriotismus kein europäischer Patriotismus möglich ist.

Wie kann ich für meinen Kontinent Verantwortung tragen, wenn das nicht mal mit meinem eigenen Land klappt?

Wenn es um Europa geht, verliert die Einteilung in „wir“ und „ihr“ sowieso ihre Gültigkeit. Diese Grenzen werden aufgehoben, wenn der Kontinent als gemeinsames Ganzes empfunden wird. Dann entsteht ein großes Wir aus kleinen Ichs. Wenn ich ein geeintes Europas also so gut wie möglich unterstützen will, komme ich gar nicht darum herum, auch auf mein eigenes Land stolz zu sein. Viktor K., 17 Jahre

Seite 5: Anders bleiben - von Laurence Isabelle Stroedter, 17 Jahre

Anders bleiben

Wenn ich an Europa denke, fallen mir sofort die unterschiedlichsten Dinge ein. Pasta und Pizza aus Italien, Mode aus Frankreich und natürlich Autos aus Deutschland. Auch Fußball kommt aus einem europäischen Land, nämlich England. In Europa haben sich in so vielen unterschiedlichen Bereichen bemerkenswerte Ideen entwickelt, von denen wir heute jeden Tag profitieren – britische Rockmusik, französische Literatur, türkischer Tee.

In Europa sind die Mentalitäten und Gewohnheiten in den einzelnen Ländern viel stärker unterschieden als zum Beispiel in den einzelnen Staaten der USA. Auf relativ kleiner Fläche kommen ganz unterschiedliche Kulturen zusammen. Ich finde, das macht Europa einzigartig. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass jedes Land anders bleiben sollte. Wenn überall nur die gleichen Läden und Restaurantketten wären, hätte das keinen Charme mehr. Außerdem, wozu sollte ich denn dann noch verreisen? Ich hätte ja alles auch direkt vor der Haustür. Eine Reise in ein anderes Land sollte doch ein bisschen was von einem Abenteuer haben. Was sind die besten Läden? Wohin geht man abends? Und aus was für einem Tier ist ein Haggis?

Und erst die Sprachen! Ohne Sprachunterschiede gäbe es vielleicht weniger Missverständnisse, aber auf jeden Fall mehr Langeweile. Ich höre manche Sprachen auch gerne, obwohl ich sie nicht verstehe. Vielleicht manchmal gerade deswegen.

Ein Franzose, selbst wenn er nicht sehr charmant ist, klingt für die Nicht-Muttersprachlerin immer noch viel eleganter als ein Deutscher.

Mit wachsender Globalisierung könnten sich manche Traditionen und Eigenheiten verflüchtigen, und das wäre schade. Europa ist eine Explosion von Eigenarten und Besonderheiten. Genau deshalb bin ich stolz, Europäerin zu sein. Laurence Isabelle Stroedter, 17 Jahre

Seite 6: Hochnäsige Europäer - von Anna Dissmann, 17 Jahre

Hochnäsige Europäer

Mir war noch nie wirklich wichtig, dass ich Deutsche oder gar Europäerin bin. Doch während meines Auslandsjahres in Chile wurde mir klar, dass ich ja sozusagen mein Land vertrete. Alle, die mich dort kennengelernt haben, müssen denken, dass so die Deutschen sind – eine unerwartete Aufgabe.

Vor allem eins wurde mir klar, als ich mit jungen Chilenen ins Gespräch kam: Ich werde beneidet. Viele erzählten mir von dem Wunsch zu reisen, andere Sprachen zu sprechen und ohne die nervige Zollprozedur im Nachbarland Argentinien mal schnell billige Bücher einzukaufen. Auch in Südamerika hätten manche gerne eine Union. Doch die aktuellen Unterschiede zwischen den Ländern müssen erst behoben werden und das wird wohl noch viele Jahre dauern.

Die Regierungen vieler südamerikanischer Länder sind noch sehr jung und haben mit Problemen zu kämpfen, die auch die Europäer nicht innerhalb kurzer Zeit lösen konnten. Auch die Mitglieder der Europäischen Union haben lange gebraucht, um sich zu dem zu entwickeln, was sie heute sind.

Trotzdem ist Chile ein tolles Land; ich bin glücklich, dass ich die Kultur durch meine Gastfamilie kennengelernt habe.

Mir war es unangenehm, wie andere deutsche Gastschüler über ihre chilenischen Gastfamilien sprachen. In den Pausen bildeten sie ihr deutsches Grüppchen, und meistens redeten sie abwertend über die Chilenen.

Auch erwachsene Touristen aus Europa, die ich getroffen habe, verurteilten die Chilenen für die Lage in ihrem Land, ohne die Gründe verstehen zu wollen. Sie sprachen von oben herab und dachten, sie könnten sie belehren, da sie ja aus Deutschland kommen. Genau wegen diesem Verhalten der Europäer finde ich es erstaunlich, dass doch so viele Chilenen Europa loben und sich freuen, wenn du als Deutsche zu ihnen kommst. Anna Dissmann, 17 Jahre

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