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© dpa

Winnenden: Das Echo der Schüsse

In Winnenden hängen Plakate: "Halten Sie Abstand. Bitte filmen Sie nicht die Gesichter von Menschen, die weinen." Heute findet hier das Gedenken an den Amoklauf eines Schülers der Albertville-Realschule statt. Die Tragödie, bei der 16 Personen starben, ist jetzt ein Jahr her, aber sie ist noch lange nicht vorbei.

Neulich war Jenny* wieder an ihrer alten Schule. Sie ging durch die Aula in den ersten Stock, in ihre alte Klasse, die 9c. Die Schule sah genauso aus wie an dem Tag, als Jenny das letzte Mal da war. Am 11. März 2009 war das, kurz bevor Tim K. auf sie schoss und eine Kugel ihre Nase streifte. Nur, dass die Schule diesmal verwaist war und still. Und dass Jenny nicht zum Unterricht da war. Sondern gemeinsam mit einem Psychologen, als Teil ihrer Traumatherapie.

Die Albertville-Realschule in Winnenden, ein Jahr nach dem Amoklauf. Der Gebäudekomplex steht leer, die Schüler werden in Containern unterrichtet. Die Jalousien sind halb heruntergelassen. So, als wollte sich das Gebäude vor den Blicken von außen schützen, besonders jetzt, ein Jahr danach. 3000 Gäste werden zur Gedenkstunde erwartet, darunter der Bundespräsident. Die Kirchenglocken werden läuten, um 9 Uhr 33, als Tim K. die Schule betrat und acht Mädchen, einen Jungen und drei Lehrerinnen tötete. Aus der Schule rannte und auf der Flucht drei Passanten und dann sich selbst erschoss. Psychologen sagen: Jahrestage sind besonders schlimm.

Winnenden hat sich gerüstet. In dem hellen Container gegenüber der Schule halten sich Psychologen bereit, an den Hausmauern des Städtchens hängen Plakate mit Verhaltensregeln: „Halten Sie bitte Abstand zu Menschen, die trauern. Belagern Sie bitte keine Häuser und Schulen. Fotografieren und filmen Sie bitte nicht die Gesichter von Menschen, die weinen.“

In einem Jahr ist viel passiert. 500 Schüler haben mit Psychologen gesprochen, 60 wurden behandelt. Etliche Dutzend Jugendliche sind seit Sommer mit ihren Therapeuten in die Albertville-Realschule gegangen, einzeln oder mit Freunden. Zwei Stunden dauern diese Besuche, mit langen Gesprächen davor und danach. Jenny aus der 9c war vor einigen Wochen dran, sie ist 15. Es war furchtbar, aber es war eine Form, Abschied zu nehmen. Von ihren toten Freundinnen und Lehrerinnen. Von ihrer Kindheit wahrscheinlich auch.

Eltern von Opfern haben sich zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen, das für eine Verschärfung des Waffenrechts kämpft und gegen Gewalt an Schulen. Gisela Mayer, Ethiklehrerin und Mitbegründerin des Aktionsbündnisses, hat ein Buch geschrieben, „Die Kälte darf nicht siegen“. Es handelt von ihrer Tochter, der Referendarin Nina Mayer, und vom Tag, an dem sie starb. Er begann „wie gemalt, leuchtend blauer Himmel, wolkenloser Sonnenschein“. Mayer schreibt über gesellschaftliche Verantwortung in Zeiten von Gewaltdarstellungen und Killerspielen. Es ist ein Rundumschlag, aber nicht verzweifelt oder bitter. Das Buch einer Mutter, die einem sinnlosen Tod einen Sinn zu geben versucht.

Die Familien der Opfer setzen große Hoffnungen auf den Prozess, der in den nächsten Monaten in Stuttgart beginnen wird. Vor einer Jugendkammer, wegen der vielen jungen Zeugen. Gisela Mayer will, dass von Verantwortung gesprochen wird. Dass endlich das Warum geklärt wird. „Wir haben unsere Kinder dem Staat anvertraut; jetzt erwarten wir auch vom Staat, dass er das Seine dazu tut, um ihren Tod aufzuklären“, schreibt sie.

Aber kann ein Prozess das überhaupt leisten? Gegen Tims Vater Jörg K. wurde Anklage erhoben, wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen. Weil er Waffen und Munition zu Hause hatte und nicht wegschloss, wie es Gesetz ist. Weil er gewusst haben soll, dass sein Sohn Tötungsfantasien hatte und unter keinen Umständen an Waffen hätte gelangen dürfen.

Bis jetzt haben die Behörden nur Puzzlesteine zusammengetragen, die sich zu keinem Bild fügen. Da gibt es eine postume Persönlichkeitsanalyse des Täters, in der von einer masochistischen Störung die Rede ist. Von sexuellen Fantasien, die sich um das Quälen von Frauen drehten. Die sollen der Grund sein, warum vor allem Mädchen getötet wurden. Ein zweites Gutachten kommt zu dem Schluss, es sei Zufall gewesen, dass es so viele weibliche Opfer gab.

Eine Kinder- und Jugendtherapeutin soll mit Tim K. über den Hass und die Wut gesprochen haben, die er auf die ganze Menschheit hatte. Im Frühjahr 2008 war das, als Tim K. immer schlechter in der Schule wurde, sich von allem zurückzog. Nur die Ego-Shooter-Spiele am Computer machten ihm noch Spaß. Da übernahm er immer die Rolle des Terroristen, nie die der Sicherheitskräfte.

Der Mutter erzählte er eines Tages, er leide an einer bipolaren Störung, das hatte er im Internet gefunden. Die Mutter hielt das für absurd. Um ihrem Sohn die Angst vor einer Krankheit zu nehmen, vereinbarte sie einen Termin bei einer Therapeutin. Der erzählte Tim K. offen, was ihm durch den Kopf ging. Dass er daran denke, andere umzubringen, zu erschießen.

Die Therapeutin sagt, sie habe davon Tims Eltern erzählt. Die Eltern bestreiten das. Ob sich diese Widersprüche vor Gericht auflösen werden, ist fraglich. Tims Schwester, die ins Gymnasium neben der Realschule ging, wird nichts sagen. Auch Tims Mutter hat ein Recht, die Aussage zu verweigern. Und Jörg K., der Vater, schweigt. Nach der Tat ist er weggezogen, nur die Behörden wissen, wohin. Seine Frau und seine Tochter haben ihren Namen geändert, es gab Morddrohungen.

Jörg K. ist 51, er hat Raumausstatter gelernt, eine Ausbildung zum Grafiker gemacht. Und dann eine Firma für Montagearbeiten gegründet. Er hat ein schweres Herzleiden, 2003 erkrankte seine Frau an Krebs, Jörg K. musste die Kinder eine Zeit lang alleine groß ziehen. Seinen Sohn nahm er ab Mai 2008 immer mal wieder mit zum Schießstand. Damit Tim K. mehr Sozialkontakte hat.

Das Haus der Familie K. in Weiler zum Stein. Ein hell gestrichenes Haus, mit Garten und Teich. Es steht zum Verkauf. Nachbarn und Bürgermeister des Ortes haben den K.s deutlich gemacht, dass sie nicht mehr zurückkehren können. Die Wohnungsanzeige im Internet zählt die Extras auf: „Kamera und Türöffner mit Code.“ Jörg K. hatte Angst vor Einbrechern. Die Alarmanlage erschien ihm nicht sicher genug, er kaufte eine Waffe und versteckte sie im Schlafzimmerschrank, eine Beretta. Die Pistole, aus der Tim K. 113 Schüsse abgab.

285 Patronen hatte Tim K. dabei, als er am Morgen des 11. März 2009 zur Albertville-Realschule fuhr. Wie er an die Munition kam, ist unklar. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass er sie über längere Zeit gehortet hat. Sein Vater war begeisterter Sportschütze und ging regelmäßig zum Schießstand. Die Patronen, die ihm dabei übrig blieben, soll er in der Schießtasche gelassen haben, anstatt sie wegzuschließen. Jörg K. bestreitet, so viel Munition in der Tasche gehabt zu haben. Vielleicht hat es Tim K. auch geschafft, den Waffen- und Munitionstresor des Vaters zu öffnen. Der Code war der Geburtstag des Vaters und der Geburtsmonat der Mutter. Wieder eines dieser widersprüchlichen Details, die nichts daran ändern, dass Tim K. 15 Menschen tötete. Die aber darüber entscheiden könnten, ob dafür jemand zur Verantwortung gezogen wird.

Jenny, die Schülerin der 9c, will, dass jemand bestraft wird. Sie saß ganz vorne im Klassenraum, als sie den ersten Knall hörte, sie hatte Deutschstunde. Sie warf sich zu Boden und riss ihre Freundin mit, das rettete ihr das Leben. Neben ihr lag ein Junge mit einem Loch im Rücken. Eine Mitschülerin war vornübergesackt, ihr Kopf war voller Blut.

Betreut wird Jenny von Thomas Kämmer. Er hat täglich mit Gewalt an Jugendlichen zu tun, betreut Opfer von sexuellem Missbrauch, von Rechtsradikalen-Überfällen. Für Kämmer liegt die strafrechtliche Verantwortung nicht nur beim Vater. Sondern auch bei der Therapeutin, der Tim K. gesagt hatte, seine Gedanken würden darum kreisen, Menschen umzubringen. Da hätte sie weiterforschen müssen, ob Tim K. nicht auch an Waffen kommen könne. Kämmer zitiert eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2003: Demnach könne ein Psychologe belangt werden, wenn er sich über Tatsachen nicht umfassend informiert oder diese falsch bewertet. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart sieht das anders. Die Psychologin habe schließlich keinen Einfluss darauf gehabt, dass Tim K. an Waffen gelangen konnte, sagt eine Sprecherin. „Wenn man da immer ermitteln würde, könnte kaum ein Arzt mehr praktizieren.“

Mit dem Prozess wird für die Angehörigen nichts ausgestanden sein – das ist auch der Staatsanwaltschaft klar. „Wir können ermitteln, wir können anklagen, aber wir werden nie die Ziele der geschädigten Eltern erreichen.“ Winnenden, im März 2010. Die Tragödie ist ein Jahr her, aber sie ist noch lange nicht vorbei.

*Name geändert

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