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Winnenden

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Winnenden: "Das kann Jahre dauern"

Nach dem Amoklauf betreuen Psychologen aus ganz Deutschland die Schüler in Winnenden. Die Fachleute stellen sich auf einen lange andauernden Einsatz ein.

Dieter Glatzer ist noch immer fassungslos. „Ich habe erschütternde Szenen bei der Betreuung der Kinder erlebt“, sagt der Chefkoordinator der Schulpsychologen in Winnenden. „Auch für uns als Helfer ist die Situation sehr belastend“, erläutert der Fachmann aus dem Stuttgarter Regierungspräsidium, der seit sieben Jahren auf diesem Gebiet tätig ist. Nach dem Amoklauf vom Mittwoch sind über hundert dieser Spezialisten im Einsatz, sie sprechen mit einzelnen Schülern, kümmern sich aber auch um ganze Gruppen. Sie wollen den Jungen und Mädchen eine Last abnehmen, laden sich dabei aber selber eine Bürde auf. Die meisten der Betreuer werden täglich selber nachbetreut, „wir wollen ja unsere Einsatzkräfte schonen“, erklärte Glatzer. Nach spätestens drei Tagen müsste ein „kompletter Teamaustausch“ erfolgen, „weil sich die Personen sonst selbst gefährden“.

Die Schulpsychologen aus Baden-Württemberg haben dabei Verstärkung aus ganz Deutschland bekommen, fünf kamen aus Thüringen, aus Nordrhein-Westfalen stammen 17 Fachleute, gestern schlossen sich zehn Bayern an. „In den ersten Tagen muss man vor allem da sein, damit wir die Reaktion aufnehmen und die Betroffenen emotional stützen können“, berichtete Glatzer. Es gelte dann, Kontakte mit vertrauten Personen herzustellen. Hilfreich sei es aber auch, „mal gar nicht zu sprechen“.

In einer Halle direkt neben der Albertville-Realschule, wo neun Schüler und drei Lehrerinnen erschossen worden sind, ist eine Anlaufstelle als „offenes Angebot“ von 7 bis 18 Uhr geschaffen worden. Dorthin können alle kommen, Kinder, Erwachsene und Familien, die Hilfe benötigen. „Viele suchen eine Aussprache, mal kurz, mal intensiv“,sagt Glatzer.

Die Fachleute stellen sich auf einen lange andauernden Einsatz ein. Anfangs gebe es meist eine Schockreaktion, verbunden mit einem Abwehrmechanismus, nach etwa drei Tagen werde „das Geschehene angenommen“, dann könne gezielt auf Fragen eingegangen werden. Erst nach den Beerdigungen folge die intensive Phase der Aufarbeitung. Wer die schlimmsten Szenen des Massakers persönlich erlebt habe, benötige wahrscheinlich eine längerfristige Therapie. „Es kann Jahre dauern, damit klar zu kommen“, erklärte Glatzer. Wie sehr die Schüler von dem Amoklauf und seinen Folgen betroffen sind, lässt sich an den Botschaften ablesen, die in dem Meer aus Blumen und Kerzen vor der Albertville-Realschule liegen. Neben Fotos der Toten steht immer wieder die Frage: „Warum ausgerechnet du?“ Zeichnungen zeigen zerrissene Herzen. Jeder dieser Nachrufe ist auch ein Hilferuf.

In der Realschule ist die Schulpflicht aufgehoben worden. Am Montag wird es statt des regulären Unterrichts eine freiwillige Betreuung der Klassenstufen in anderen Schulgebäuden geben. Nahezu alle Lehrer haben ihre Mitarbeit signalisiert, sie werden entlastet durch Kollegen aus dem ganzen Rems-Murr-Kreis. Ob der Zeitplan für die Abschlussprüfungen zur Mittleren Reife im nächsten Monat eingehalten werden kann, ist fraglich. Wolfgang Schiele, Leitender Regierungsschuldirektor im Regierungspräsidium Stuttgart, sicherte gestern Flexibilität zu: „Für jede einzelne Schülerin, jeden Schüler dürfen nach diesen Vorkommnissen und Erlebnissen keine Nachteile entstehen.“

Was mit dem Schulgebäude geschehen wird, soll im Laufe dieser Woche entschieden werden. Sicher scheint schon jetzt, dass das Stockwerk, in dem Tim K. zwölf Menschen tötete, in diesem Schuljahr nicht mehr genutzt werden kann.

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