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Hubschrauber

© ddp

Winterwetter: Waghalsiger Weg über die Ostsee

Etwa alle zehn Jahre friert die Ostsee zwischen Rügen und Hiddensee zu. Wie jetzt. Viele wandern die fünf Kilometer einfach rüber.

Völlig ermattet sinkt der Mann auf seinem Schlitten zusammen. „Wer jetzt noch losgeht, ist lebensmüde. Die Ostsee drückt von unten. 20 Zentimeter tief ist der Matsch auf der dicken Eisdecke. Mir tun alle Knochen weh.“ Hinter dem Mittfünfziger liegt ein gut zweistündiger Fußmarsch von Vitte auf der Insel Hiddensee nach Schaprode auf Rügen. Eine „völlig entnervte Urlauberfamilie“ hat er über das Eis geführt. Die hing seit Sonntag auf der Insel fest und wollte unbedingt nach Hause in Niedersachsen.

Etwa alle zehn Jahre gibt es auf der Ostsee ein sagenhaftes Schauspiel. Der Bodden zwischen Rügen und Hiddensee friert komplett zu. Für Menschen, die einen richtigen Winter noch richtig genießen, ist es ein Eisparadies, das sich vor ihnen auftut. Ein Spaziergang über die Ostsee – es ist ein Erlebnis, das der Städter nie vergisst.

Dabei ist es ein kleiner Unterschied, ob die Sonne scheint, oder – wie gestern – ein veritabler Schneesturm aufzieht. Der Eiswanderer konnte am Dienstag nicht mehr die Hand vor den Augen sehen. Er machte wieder kehrt, zu gefährlich wurde es.

Am Donnerstag vergangener Woche hatte die letzte Fähre abgelegt. Dann fiel sie mit Motorschaden aus und die Fahrrinne fror zu. Das Eis ist stellenweise mehr als einen halben Meter dick. Selbst ein Eisbrecher musste in der Nacht zum Dienstag seinen Weg zur Insel abbrechen. Hiddensee ist mit seinen derzeit etwa 800 Einwohnern und 150 Urlaubern von der Außenwelt abgeschnitten. Nur noch Hubschrauber können Lebensmittel und Medikamente bringen. Ein erster Helikopter landete am Dienstagvormittag auf dem Sportplatz in Vitte und begann mit einem Pendelverkehr. Jeweils fünf Personen konnten mit an Bord nach Rügen fliegen. Vorrang hatten Familien mit Kleinstkindern und Kranke. Am Nachmittag behinderte aber starker Schneesturm die Luftbrücke.

Unter einer gut 20 Zentimeter dicken Schneedecke verschwand am Nachmittag auch jener Weg, den seit Sonntag täglich zwischen 20 und 30 Personen gegangen waren. Der Mann mit den Schlitten – „Gerhard genügt als Name“, sagt er –, betreibt auf der 18 Kilometer langen sowie zwischen 300 und 3000 Meter breiten Insel eine Ferienwohnung. „Die einen Urlauber wollten unbedingt auf die Insel, die anderen unter allen Umständen wieder runter“, erzählt er. „Da blieb mir nichts anderes übrig, als die Leute samt Koffern und Kleinkind zu Fuß hin- und herzubringen.“ Verboten sei das. Aber die Polizei hat auf der verschneiten Insel Rügen mehr und anderes zu tun, als sich um waghalsige Touristen und Einheimische zu kümmern.

Seit Sonntag hatte sich ein richtiger Trampelpfad auf dem knapp fünf Kilometer langen Abschnitt zwischen Schaprode und Vitte gebildet. Zusätzlich dienten Äste oder ins Eis gerammte Pfosten zur Orientierung. „Es war schon mitunter unheimlich“, schilderte eine Wanderin ihre Eindrücke. „Wir sahen nur noch weiß um uns und dachten schon, wir laufen nur noch im Kreis.“ Der Wind aus Westen habe dann die Orientierung wieder erleichtert.“ Die Wanderung über den Ostseebodden dauert ungefähr eineinhalb bis zwei Stunden, ja nachdem, wie schnell man auf dem Eis vorwärts kommt. Der Wanderer muss sehr darauf achten, dass er nicht stolpert und nicht umknickt und nicht in den Eismatsch einsinkt. Es ist keine glatte Oberfläche, wie man sie von zugefrorenen Seen kennt. Wenn die Ostsee zufriert, dann bilden sich zunächst Eisschollen. Diese wachsen zusammen, schieben sich ineinander und übereinander. Das ist eine holprige Angelegenheit. Obwohl der Wanderer auf der dicken Eisschicht nicht einbrechen kann, spürt er doch ständig, die das Wasser von unten gegen das Eis drückt, wie alles im Untergrund gleichsam in Bewegung ist. Aber Angst scheinen die meisten Wanderer nicht zu haben.

Doch längst nicht alle Einheimischen und Urlauber sind so wagemutig. „Ein echter Hiddenseer hat immer seine Kühltruhe voll“, sagt der Einwohner Wolfgang Schöne am Telefon. „Fleisch, Brötchen, Brot sind eingefrostet und Keller liegen noch genügend Konserven.“ So schlimm wie jetzt sei es nur im Katastrophenwinter 1978/79 gewesen. „Da hatten wir viel mehr Schnee. Aber die Fahrrinne nach Rügen war immer offen.“

Das lag am Marinestützpunkt in Dranske. Die hier stationierten Armeeschiffe kamen immer durchs Eis. Heute sind die Soldaten längst abgezogen. Der Katastrophenstab setzte deshalb seine Hoffnungen auf den Eisbrecher „Ranzow“. Er unternahm am Montag von Stralsund aus seinen zweiten Versuch, nachdem er sich am Freitag im Eis festgefahren hatte. Da die kürzeste Verbindung über den Strelasund allerdings wegen starker Eisbarrieren nicht zu bewältigen war, entschied sich die Besatzung für den großen Weg rund um die Insel Rügen. „Da kamen wir auch nicht weiter, nach dem das Schiff anfangs noch zwischen ein und sogar zehn Knoten machen konnte“, berichtete Reedereisprecher Knut Schäfer. „Es blieb nur die Umkehr.“

Selbst bei einer Reparatur der einzigen „eisbrechenden Fähre Vitte“ kann der Verkehr nach Hiddensee in absehbarer Zeit nicht aufgenommen werden. Das Eis ist einfach zu dick. Die Regale im Edeka-Markt Vitte haben sich sichtlich geleert. „Am Mittwoch vergangener Woche erreichte uns die letzte Lieferung“, sagt der Chef Horst Sachse. „Brot, Eier, Kartoffeln sowie frisches Obst und Gemüse sind ausverkauft.“ Dagegen hatte NDR-Wettermann Stefan Kreibohm noch Glück. „Im Dorf Kloster gab es am Montag sogar noch Brot“, meinte er und präsentierte seinen Einkauf stolz vor laufender Kamera. „Ansonsten improvisiere ich so wie alle anderen. Niemand leide Hunger.“

Das trifft auch auf die Hotels zu. „Wir haben noch genügend Fisch eingefrostet“, bestätigte Nicole Lorenz vom Hotel „Hitthim“ in Kloster. Allerdings gibt es wirtschaftliche Einbußen durch fehlende Gäste. Zehn Ferienwohnungen in der Hotelanlage „Godewind“ waren durch Gäste aus Berlin gebucht worden, die aber nun gar nicht auf die Insel gelangen konnten. Sie suchten sich Hotels auf Rügen.

Bürgermeister Manfred Gau und Inselpolizist Peter Damaske bestätigten die Gelassenheit auf Hiddensee. Nur ein Berliner Chirurg habe am Wochenende auf einem Transport nach Rügen oder aufs Festland bestanden, hieß es vom Bürgermeister. Doch nur bei Gefahr für Leib und Leben hätte ein Hubschrauber landen können. „Das war aber nachweislich nicht der Fall“, meinte er.

Im strengen Winter 1996/97 hatten sich sogar Autofahrer auf das Eis gewagt und die autofreie Insel angesteuert. Die Polizei strafte damals zwar im großen Stil ab, zeigte sich aber angesichts des Ansturms schier überfordert. Selbst aus Berlin hatten sich damals viele Ausflügler auf den Weg an die Küste gemacht, um einmal auf der Ostsee mit ihrem Pkw fahren zu können. Inzwischen ist der Hafen in Schaprode umgebaut worden, so dass die Autos hier kaum noch aufs Eis kommen.

Dennoch schaffte es am Wochenende ein Einheimischer. Er fuhr sich allerdings kurz vor der Hiddenseer Insel zwischen den Eisschollen fest und kann weder vor, noch zurück. Wenn er Pech hat, muss er warten, bis das Eis schmilzt. Und sein Wagen langsam in die Ostsee sinkt.

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