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Panorama: „Wir haben viele Schutzengel gehabt“

Von Petra Kistler, Überlingen Die Ferienidylle am Bodensee ist einen Tag nach der Katastrophe verschwunden. Den Menschen in Überlingen steht der Schreck ins Gesicht geschrieben.

Von Petra Kistler, Überlingen

Die Ferienidylle am Bodensee ist einen Tag nach der Katastrophe verschwunden. Den Menschen in Überlingen steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Wenn ich abends mit dem Hund gehe, sehe ich häufig in 20 Minuten mehr als 40 Flieger im Himmel“, erzählt ein Blumenhändler. Erst jetzt werde ihm klar, was dort alles passieren kann. „Ich bin immer noch geschockt.“ „Verschieben Sie einfach mal die Fundstellen um nur tausend Meter, und sie sehen, wie viele Schutzengel die Leute hier gehabt haben", sagt der Mesner des Überlinger Münsters und steckt neue Kerzen an. „Die brennenden Trümmer wären mitten in die Altstadt gefallen." Am Vorabend hatte hier ein Trauer-Gottesdienst stattgefunden, an dem auch ein russisch-orthodoxer Priester teilnahm. Der Kirchendiener weiß, wovon er spricht: Er ist Feuerwehrmann und war in dieser furchtbaren Nacht draußen.

„Trauer auf der einen Seite – Gottes Gnade auf der anderen", steht in akkurater Schrift im Kondolenzbuch, dass die Stadt Überlingen im Ratssaal ausgelegt hat. Es gebe eine „überwältigende Hilfsbereitschaft", lobt Überlingens Oberbürgermeister Weber seine 21 000-Seelen-Gemeinde. Viele Bürger haben sofort Unterkünfte für die Angehörigen der Opfer angeboten, die nun aus Moskau an den Bodensee geflogen werden, um von ihren Toten Abschied zu nehmen.

500 Beamte der Landespolizei von Baden-Württemberg sind im Einsatz, zwei Obduktionsteams stehen im Kreiskrankenhaus Friedrichshafen bereit. Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden hat 80 Beamte an den Bodensee geschickt. Sie sollen die Opfer bergen und identifizieren helfen. Über den Hügeln nordöstlich von Überlingen kreisen immer noch die Hubschrauber. Zwei Tornados der Luftwaffe haben die Absturzstellen mit ihren Kameras aufgenommen. Auf den Bildern ist jedes Detail zu erkennen. Jedes. Es sind Bilder des Schreckens.

38 Leichen sind bis zum Mittwochnachmittag gefunden worden. Nur zwei konnten identifiziert werden: Es sind die Piloten des Boeing-Transportflugzeugs. Auf den Gehwegen in der Stadt wurden Leichen gefunden, auf dem Parkplatz hinterm Krankenhaus, auf den Wiesen in Owingen und im Wald um Aufkirch. Oft sind es nur Hände, Arme, Beine. Kreisbrandmeister Henning Nöh, der 250 Männer im Einsatz hatte, berichtet von den Bildern, die seine Feuerwehrleute nicht mehr aus dem Kopf bekommen: Bilder von Leichenteilen, von verbrannter Fracht, von aufgerissener Erde.

Die Feuerwehrleute werden vom Kriseninterventionsteam um Professor Knudeike Buchmann psychologisch betreut. Die eigentliche Arbeit kommt auf die Psychologen und Psychotherapeuten aber noch zu. Sie müssen sich um die Angehörigen, die in den nächsten Tagen aus Russland eingeflogen werden sollen, kümmern. Der erste ist bereits in Überlingen: Im Flugzeug saßen seine Frau und seine Töchter, fünf und vierzehn Jahre alt. Der Mann, ein hoher Beamter, will unbedingt zu den sterblichen Überresten. „Ein schwieriger und furchtbarer Moment", sagt Buchmann.

Die meisten Toten wurden in oder unter einem großen Rumpfteil der Tupolew vermutet, das erst am Mittwochnachmittag geborgen wurde. Die toten Passagiere, so wird berichtet, saßen noch angeschnallt auf ihren Sitzen, als der Kran das Trümmerteil anhob. Der Ort des Schreckens wird streng abgeschirmt vor den Übertragungswagen der Fernsehteams, die sich auf den Feldwegen von Brachenreute eingerichtet haben.

Am Wochenende wollten die Überlinger ihr Gassenfest feiern. Der Termin wurde abgesagt.

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