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Panorama: Wir sind das Volk, oder?

Aus für die „Lustigen Musikanten“. Die Fans sind empört – und werden belächelt. Vielleicht zu Unrecht

Zähne. Zähne sind wichtig. Ihr Lächeln bleibt einen Moment zu lange stehen, um glaubhaft zu sein. Viele sehr weiße, sehr große Zähne, um die sich die Lippen wie ein zu heiß gewaschener Sofabezug nicht mehr schließen können.

„Bei der Anzahl der religiösen Lieder hier müsste Anita Burck eigentlich nachher wieder laufen können“, flüstert der Nachbar. Anita Burck, die im Rollstuhl sitzt, Startnummer 5, singt vom Lachen der Kinder. Geschmeidig gleitet der Kamerakran herauf und herunter wie eine grasende Giraffe. Die Grand-Prix-Maschine läuft, an deren Ende ein Siegertitel stehen wird, der, das sagen alle, mit dem Begriff „volkstümlicher Schlager“ am besten bezeichnet ist.

Dies ist der „Grand Prix der Volksmusik“, der wichtigste Wettbewerb der Branche, je vier Sieger der Vorentscheidungen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Südtirol treten gegeneinander an, im ORF-Zentrum von Wien.

Man musste sich das aus der Nähe ansehen am letzten Wochenende, denn seitdem das ZDF angekündigt hat, die Sendung „Lustige Musikanten“ abzusetzen, die seit über 14 Jahren mit den Moderatoren Marianne und Michael ausgestrahlt wird, stehen die Anhänger der Volksmusik in Empörung zusammen. Die Fans drohen mit gerichtlichen Konsequenzen, die Szene ist in der Krise. Ausgerechnet M & M! In der Szene hatte es immer geheißen, die beiden seien „nicht mehr wegzudenken“. Und jetzt läuft trotz allem am kommenden Donnerstag ihre Sendung zum letzten Mal.

Ist es jetzt bald vorbei? Die Volksmusik ein sterbendes Genre? Das Ende des schlechten Geschmacks? Oder haben wir da vielleicht alle etwas übersehen?

„Die Schäfer“ sind zum ersten Mal beim Grand Prix. Sie sitzen mit nackten Füßen vor den Garderoben. Sie treten ausschließlich barfuß auf. Und nur in der Schäferkluft. Sie wissen noch nicht, dass sie in ein paar Stunden als bester deutscher Beitrag den vierten Platz machen werden. Aber sie wissen, dass Volksmusiker von vielen belächelt werden.

In den 18 Jahren, in denen es sie gibt, haben sie sich in die Schäfermetapher versenkt, die Metapher erwies sich als uferlos. Sie konnten darin schwimmen. „Das ist mehr als Musik machen. Es ist ein völlig anderes Lebensgefühl“, sagt Uwe Erhardt. Sein Bewusstsein habe sich vertieft, über die Jahre. Uwe Erhardt sang einmal auf einem Mittelalterfest in einer historischen Schäfergruppe alte Schäferweisen. Sie handelten von einem Ideal, einem Arkadien, einem paradiesischen Zustand von Erfüllung und Ausgeglichenheit. Dort entstand die Idee von der Gruppe. Hirten, bemerkte Uwe bald, tauchen auch in der Weihnachtsgeschichte auf, sie geben Orientierung. „Und was sucht der heutige Mensch anderes?“ Bianca ist schon für den Auftritt geschminkt und zieht an ihrer Zigarette.

Ist die Sehnsucht nach einem Arkadien etwa proletenhaft? Was ist dann mit den ganzen Dichtern seit der Antike? „Die Leute verwechseln bei uns das Leichte mit dem Oberflächlichen“, sagt Bianca App. Als ob nicht das Leichte manchmal das Schwerste wäre.

„Wir ziehen durch die Lande“, sagt Uwe, „und beobachten die Leute.“ Das sei die historische Pflicht des Volksmusikers, der dem Volk zuhört, um davon zu singen. Die Nähe zum Publikum ist ihnen im Jahr 125 000 Autobahnkilometer wert.

Sie wollen Wahrheit vermitteln, oder mindestens Wahrhaftigkeit. Sie haben an ihrer Weste 52 große Knöpfe für die 52 Wochen des Jahres, in denen der Schäfer für seine Schafe da ist. Jeder dieser Knöpfe ist mit einem Dreistich angenäht, der wie der Huf eines Schafs aussieht. Auch ihre Kleidung ist eine historische Wahrheit.

Am 2. April 1990 traten sie zum ersten Mal im Fernsehen auf, beim „Großen Preis“ von Wim Thoelke. Danach hörte Uwe Erhardt auf, bei der Kripo zu arbeiten. Er war nun ganz Schäferdarsteller. Er hatte „eine geistige Nische gefunden, in der wir uns wohlfühlen.“ Als Kriminalhauptkommissar habe er sich um die schwarzen Schafe gekümmert, jetzt halt um die weißen.

Aber so glücklich sie damals über den ersten Fernsehauftritt waren, mussten sie doch sehen, dass das System „Volksmusik“ mit dem System „Fernsehen“ nicht immer zusammenpasst. Das eine lobt Wahrhaftigkeit, das andere feiert die Illusion. Das eine feiert die Gemeinschaft, das andere sucht Helden. In der Volksmusik finden sie die Bestätigung in der Wiederholung des Traditionellen. Aber auf dem Bildschirm sind Wiederholungen bloß die Kapitulation des Fernsehens vor seiner eigentlichen Aufgabe, Neues zu zeigen.

Und da sind die Konzessionen, die die Musiker über die Jahre zunehmend machen sollten: Die Fernsehstudios bekamen Freitreppen, die man lächelnd hinabsteigen muss, die Interpreten sollten Abendkleider anziehen, in denen sie nicht zu rund aussehen dürfen. Die „Schäfer“ haben das nie mitgemacht. Sie bestehen darauf, barfuß aufzutreten. Und weil dies nicht Pop ist, gehen sie nicht mal zur Pediküre. Die „Schäfer“ glauben an Bimsstein.

„Das Publikum wird systematisch unterschätzt“, sagt Uwe. Das ganze Genre sei im Fernsehen missbraucht worden, von den Moderatoren für ihre Witze, von den Programmmachern für ihre Marketingstrategien. Die sitzen in ihren Studios und glauben, dass, wenn man den kleinen Fluss der Volksmusik nur in den Ozean der Unterhaltung lenkt, irgendwann eine machtvolle Welle entsteht.

Im Moment wehrt sich das Fernsehen allerdings gegen eine Flut von Vorwürfen. Mitte August waren 1500 Zuschauer, die je 20 Euro bezahlt hatten, zur Aufzeichnung der letzten Sendung der „Lustigen Musikanten“ ins österreichische Rosenburg gefahren. Als alles vorbei war, spürte Marianne Hartl einen Kopfschmerz wie in 54 Jahren nicht. Sie kollabierte krankenhausreif und kam für einige Stunden in die Klinik. War es nur ein Schwächeanfall, oder konnte sie den Abschied nicht verkraften? Marianne und Michael sagten dazu nichts, aber ihr Schweigen blieb als stummer Vorwurf stehen. Das ZDF! Mörder!

Und es reichte ja, was die anderen sagten. Denn plötzlich empörte sich die Öffentlichkeit, wie es niemand für möglich gehalten hatte. Die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager und Volksmusik“ ließ einen Mainzer Rechtsanwalt die Möglichkeiten für eine Klage prüfen. Billiger sei es, sich an den Petitionsausschuss des Bundestages zu wenden oder an den Antidiskriminierungsbeauftragen der Bundesregierung, sagte der. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sagte stellvertretend für seine 12 000 Mitglieder den Satz, der Verlust der Sendung sei für Marianne, „als verlöre man ein Kind“. Er geriet ins Rechnen und stellte fest, dass im Monat im ZDF nur neun Stunden Volks- und Schlagermusik gesendet werden. „Das sind 1,23 Prozent der gesamten Sendezeit. Diese Prozente sollen nun für das hohe Alter des ZDF-Publikums verantwortlich sein? Als ob sich in den übrigen 98,7 Prozent die Jungen tummeln!“ Heino empfahl jedem, einen Euro der Rundfunkgebühren einzubehalten, um gegen die Diskriminierung der Alten zu protestieren, die ja dem ZDF immer gute Quoten gebracht hätten.

Die Deutschen scheinen plötzlich bereit, alle politischen Instrumente auszuschöpfen, was daran erinnert, dass das Volkslied ursprünglich ein Instrument zur Emanzipation des Volkes gegen seine Unterdrücker war. Das Volkslied, ein Lied vom Volk, mit dem es sich von seinem Souverän emanzipiert. Würdig, in schweren Archiven in Freiburg gesammelt zu werden.

In Wien küren jetzt die Zuschauer per Telefon und SMS „Sigrid und Marina“ mit den „Zillertaler Haderlumpen“ zum Sieger, 17,2 Prozent des deutschen Fernsehpublikums sehen den Grand Prix. Aber während die 3,97 Millionen Zuschauer in Deutschland den Abspann verfolgen, ist in Wien der Abend noch nicht zu Ende. Im Gegenteil, er fängt neu an. Er bekommt eine völlig neue Wendung. Und er kommt einer ganz anderen Wahrheit näher.

Mit der Erleichterung derer, die jetzt nicht mehr das zum Playback passende Gesicht machen müssen, sind die Kandidaten in ihr Hotel gefahren. Und weil sie noch zu aufgeputscht sind, um auf ihre Zimmer zu gehen, stehen sie jetzt in der scharlachrot ausgeschlagenen Bijou-Bar des Park- Hotels Schönbrunn. Vier Sterne. Ihre Zähne haben sich wieder in die Alltagsgesichter zurückgezogen.

Und da holt ein Schweizer sein Hackbrett raus. Der Raum, scheint es, läuft noch röter an. Er spielt auf, seine Hände wirbeln, und da zeigt sich jetzt, wer von den Künstlern sein Instrument wirklich beherrscht, wessen Lust echt ist. Die Oberpfälzerin schnallt sich ihr Akkordeon wieder um. Gelegentlich bricht ein Jodler aus einer ausgelassenen Kehle und steigt auf zu den befremdeten Kronleuchtern. Die Barkeeper glühen vor Glück.

Man kann sich an die Bar lehnen und darüber nachdenken, wie Aura durch Distanz entsteht. Popstars leben davon, Schauspieler auch. Ihre Leistung wird daran gemessen, wie gut sie es schaffen, eine kohärente Illusion aufrechtzuerhalten. „Das ist Showbusiness“, sagt Monique. Volksmusik habe allerdings damit nichts zu tun.

Die Schweizerin Monique ist heute Siebte geworden. Als sie 1999 den Grand Prix der Volksmusik gewonnen hatte, sagte ihre Managerin, sie dürfe von nun an nicht mehr ungeschminkt das Haus verlassen. Abnehmen müsse sie auch. Ganz offensichtlich pflegte die Managerin völlig falsche Vorstellungen von den Gepflogenheiten der Branche. Monique wechselte sie aus.

Das Volkslied gehört allen. Und die Interpreten irgendwie auch. Das Volkslied ist ein Abbild des Alltags. Diese Einsicht führte dazu, dass Monique an diesem Abend mit „Ich bin die glücklichste Frau“ eine Art gesungenen CSU-Beitrag zur Mütterdebatte über ihren Windelwechselalltag mit ihren real existierenden drei Kindern zum Besten gab. „Ich singe, wie ich bin, und ich lebe, was ich singe.“ Das honorieren die Fans. Früher, sagt Monique, wurden in den Volksliedern Geschichten erzählt. Wahre Geschichten. Noch viel früher, als noch nicht alle lesen konnten, war das Lied ein Weg, um sich Geschichten zu merken.

Und was ist mit den Alten? Fühlt es sich nicht komisch an, als 29-Jährige für ein altes Publikum zu spielen? „Die Alten“, sagt sie, „sind ein dankbares Publikum.“ Denn ihre Sympathie ist stetig.

Es ist zwei Uhr früh. Der stolze Großvater von „Beatrice“, Platz zwölf, spricht jetzt auch Unbekannte an. Die Leute tanzen in Paaren. Wahrscheinlich ist es so gewesen, am Anfang, als die Volksmusik noch kein Fernsehen kannte: Leute kamen zusammen, sie hatten Zeit, und einer fing zu spielen an. Vielleicht kommt man näher nicht heran an den Kern der Volksmusik als hier in der Bar des Wiener Vier- Sterne-Hotels, nachdem alles, was zählt, schon gelaufen ist. Oder ist es das hier, was zählt? Abseits der Studios, der Manager, der Veranstalter, der Strategen, der Vermarktungsprofis, der Berater und Profiteure. Eine Musik, die sich selbst genügt, die nur dem Moment vergehen helfen soll, während die Zeit einen harmlosen Tod stirbt.

Die merkwürdige Tendenz, immer mehr in Richtung Schlager oder Rock zu gehen, komme von den Produzenten der Shows, sagt Monique. Auch bei Marianne und Michael, auch hier beim Grand Prix sind ja reine Schlager vertreten. Kaum noch ist es möglich, eine Grenze zu ziehen. Erst hat das Fernsehen immer süßere Schlager angeboten, jetzt ist das ganze Genre kariös. „Aber komischerweise hat seit Beginn des Grand Prix immer ein sehr volkstümliches Lied gewonnen.“

Es habe, sagt Monique, auch immer mehr Leute gegeben, die einfach nur berühmt werden wollten. Wegen der niedrigen Hürden fangen sie beim „volkstümlichen Schlager“ an. Sie bevölkern die Sendungen. Und deshalb, sagt Monique, habe die Einstellung jeder Fernsehsendung in Wahrheit auch ihr Gutes: Wenn nämlich Musiker nicht mehr künstlich aufgebaut würden, sondern in Konzerten bestehen müssten, werde man schon sehen, wer wirklich singen könne. Trittbrettfahrer würden sich dort quasi selbst erledigen. Und sobald das Fernsehen sähe, dass die Musik auch ohne es bestehe, wenn die musikalische Qualität wieder gestiegen sei, dann würde das Fernsehen zurückkommen auf diese Musik. Reumütig. Alle Seiten geläutert.

Volksmusik wird es immer geben, glauben sie hier, und so unwahrscheinlich es klingt, hier in der Bar, kurz vor fünf Uhr morgens und beim dröhnenden Akkordeon, hat es einen wahren Klang. Denn das Volk ist nicht mehr wegzudenken.

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