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Nach dem Sturm. Umgestürzte Bäume im Central Park...

© AFP

Wirbelsturm "Irene" in den USA: Keine Katastrophe, aber auch nicht harmlos

New York hat "Irene" überstanden – und es war gar nicht so schlimm. Doch ganz so harmlos, wie jetzt viele sagen, ging es dann doch nicht zu an der amerikanischen Ostküste.

Frauen joggen im Park. Kinder springen in Gummistiefeln durch Pfützen. Männer flanieren in T-Shirt und kurzen Hosen durch den Central Park. New York hat „Irene“ überstanden – und es war gar nicht so schlimm. Doch ganz so harmlos, wie jetzt viele sagen, war es nicht an der Ostküste: Millionen waren ohne Strom, weite Gebiete wurden überschwemmt – mindestens 18 Menschen starben. Nun haben in den USA Aufräumen und Analyse begonnen. Bei aller Erleichterung übersehen viele die Bilanz von „Irene“, all die Menschen, die ihr Leben verloren. Die meisten wurden von Bäumen oder Trümmern erschlagen, so ein elfjähriger Junge in seinem Zimmer oder ein Mann, der sein Vieh nicht verlassen wollte. Andere starben in ihren Autos oder ertranken in den Fluten. „Irene“ hat in fast einem Dutzend Staaten zu Überflutungen geführt. Unter den Toten sind Menschen, die sich der Evakuierung widersetzt hatten. Die Warnung vor vorschneller Erleichterung kam von oben. „Das ist noch nicht vorbei“, sagte US-Präsident Barack Obama am Sonntagabend. Da hatte „Irene“ New York längst passiert, verwüstete aber gerade den Neuenglandstaat Vermont, ließ Brücken und Häuser einstürzen. Obama: „Ich will unterstreichen, dass die Auswirkungen des Sturms noch für einige Zeit zu spüren sein werden. Die Erholung kann Wochen dauern.“

Die ganzen USA, ja die ganze Welt hatte auf New York geschaut. Die Millionenmetropole ist Katastrophen gewöhnt – aber keine tropischen Wirbelstürme, die sich höchst selten so weit in den Norden verirren. Der Sturm, der zwei Tage lang New York in Atem hielt, kam und ging wieder. Außer ein paar Pfützen blieb am Ende wenig übrig. Jetzt geraten die Fernsehsender unter Beschuss, die um den Hurrikan einen Hype ohnegleichen veranstaltet hatten. Sämtliche Nachrichtensender, von CNN bis zum Lokalfernsehen, kannten seit Tagen nur ein Thema und berichteten atemlos über den Jahrhundertsturm, der langsam von North Carolina auf die Millionenmetropole am Hudson zuhielt. Für die nötige Dramatik sorgten Fernsehreporter, die sich an Stränden entlang der Ostküste installiert hatten und im peitschenden Wind und strömenden Regen in ihre Mikrofone schrien. Dabei trotzten sie als einzige den Evakuierungsbefehlen, die ihre Kollegen im Studio im Minutentakt wiederholten.

Da standen sie also. Auf dem berühmten Boardwalk der Kasinostadt Atlantic City, in New Yorks Battery Park unweit der Freiheitsstatue, und – natürlich – in Long Beach. In diesem Stranddorf auf Long Island traf „Irene“ erstmals auf New Yorker Boden, und binnen weniger Minuten waren Straßen und Parkplätze überschwemmt. CNN zeigte das ausführlich, ließ seine Reporter knietief durch die Fluten waten, sagte dazu aber nicht, dass Long Beach mehrmals im Jahr von Wellen überspült wird, auch wenn kein Hurrikan in der Nähe ist. Die schmale Halbinsel ist New York auf Atlantikseite vorgelagert und liegt nur einen Meter über dem Meeresspiegel. Wasser auf Parkplätzen – das gehört hier zum Alltag.

Auch andere alltägliche Sorgen machten Schlagzeilen. Ali Velshi, einer der prominenteren Köpfe von CNN, hatte sich an New Yorks Touristenhafen South Street Seaport positioniert und filmte dort den steigenden Pegel an einer Straßenkreuzung. Atemlos erklärte er, dass hier ein Ablauf verstopft sei, was die Wassermassen natürlich erklärte. Ferner zeigte Velshi, dass „nur drei Meter weiter die Straße wieder trocken“ sei – keine große Überraschung, denn die alten Straßen an der Südspitze Manhattans sind nun nicht ganz eben, sondern eher buckelig. In einer Senke sammelt sich Wasser, auf einem Hügel nicht.

Tödliche Gefahr verkauft sich gut. „Live Rescue in New York“ lief als Unterzeile auf dem Lokalsender ABC unter Bildern, die zeigten, wie zwei Feuerwehrmänner einen älteren Herrn in ein Schlauchboot holten. Die Flut hatte gerade sein Haus erreicht: Gefahr bestand nicht. Eine halbe Stunde später hätte er trockenen Fußes aus der Türe treten können.

Dabei ist es gut gewesen, dass Feuerwehr und Polizei im Einsatz waren. Auch ist lobenswert, dass die Behörden auf das Schlimmste vorbereitet waren und etwa die niedrig gelegenen Landstriche frühzeitig evakuieren ließen. Meteorologen hatten schon im Vorfeld erklärt, dass man den Verlauf und die Intensität eines Hurrikans nicht präzise vorhersagen könnte. Viel zu komplex sind die Winde. Und auch im Nachhinein ist klar, dass „Irene“ New York durchaus stärker hätte treffen können. „Better safe than sorry“, sagen die Amerikaner, lieber sicher sein als es nachher zu bereuen. Als vor sechs Jahren der Hurrikan „Katrina“ in New Orleans an Land ging, war er seit Tagen erwartet worden und traf die Menschen dennoch unvorbereitet. Hunderttausende flohen in Panik, als die Straßen schon überflutet waren.

„Irene“ wütete hingegen in leeren Straßen, in denen kein Mensch mehr stand – abgesehen von den vielen Fernsehteams. Doch so gut die Behörden vorbereitet waren, und so sehr sie die TV-Sender zur Verbreitung ihrer Botschaft nutzten und nutzen müssen, ist doch die Rolle des Fernsehens merkwürdig. Es scheint sich komplett von neutraler Berichterstattung verabschiedet und der Sensation verschrieben zu haben. Mehr als zwei Tage lang tobte auf CNN ausschließlich „Irene“, als gäbe es kein Libyen, keine Politik, kein Sport. In der selbsterzeugten Aufregung um den Jahrhunderthurrikan verlor mancher Reporter den Bezug zur Realität und gab das auch zu: Als der Meteorologe Brian Norcross dem Sender MSNBC berichtete, dass „Irene“ gerade zu einem Tropensturm abgestuft worden war, wollte die Moderatorin nicht wahrhaben, dass ihr gerade der lang angekündigte Hurrikan abhandengekommen war. „Wirklich, Brian? Können wir es nicht beim Hurrikan belassen?“, fragte sie. „Nein“, meinte Norcross trocken. (mit dpa)

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