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Panorama: "Wo Legenden sterben": Ahab auf dem Surfbrett

1892 malte der englische Symbolist Walter Crane ein beeindruckendes Gemälde: "Die Rosse des Neptun". Es zeigt eine sich überschlagende Welle, deren Gischt sich in eine Herde weißer, wild gehetzter und auf den Strand zudonnernder Pferde verwandelt.

1892 malte der englische Symbolist Walter Crane ein beeindruckendes Gemälde: "Die Rosse des Neptun". Es zeigt eine sich überschlagende Welle, deren Gischt sich in eine Herde weißer, wild gehetzter und auf den Strand zudonnernder Pferde verwandelt. Dicht dahinter der Gott, mit ausgebreiteten Armen, im rechten seinen Dreizack, sein Wallebart genauso weiß wie der Brecher. Gerade noch erkennbar Neptuns Streitwagen, doch er könnte genauso gut eins der Pferde reiten. Gott ist ein Surfer.

Den Sog der Brandung erlebt der Surfer vor allem metaphysisch, nicht physisch. Ihn zieht es dorthin, wo er Gott vermutet, wo er vielleicht die perfekte Welle erwischen und in ihr für einen Moment selbst zum Gott werden könnte. Er ist ein Eremit und die Brandung seine Klause. Die Suche nach dem Letztsinn findet in den Elementen, aber auch gegen sie statt. Die zwiespältige Sehnsucht, die Natur zu unterwerfen wie Neptun seine Rosse und gleichzeitig mit ihr zu verschmelzen, wird zur Obsession. Opfert man ihr sein Leben, ist das der Stoff, aus dem Legenden sind. Captain Ahab ist zwar auch so eine, sieht mit Sonnenbrille aber nicht so cool aus.

Ein zweites Bild, ein anderes Pathos: Genau 50 Jahre nach Crane malt Edward Hopper seine "Nighthawks", die traurigen Gestalten im American Diner an der Ecke. Helnweins Variante "Boulevard of Broken Dreams" mit Monroe und Bogey an der Bar ist wohl noch bekannter. Kem Nunns Roman "Wo Legenden sterben" hat mit all diesen Bildern zu tun. Einerseits wäre das Buch ohne die mythisch aufgeladene und titelgebende Dramatik des Surfers ziemlich sinn- und gehaltlos. Sie gibt dem Text sein Gepräge, obwohl sie sich sehr versteckt hält und nur selten explizit aufblitzt. Andererseits werden Nunns Romane in den USA zum Genre des durchaus hoppermäßigen "Californian Noir" gezählt. Das pflegt den kühlen knappen Stil des Understatements, überbelichtet nichts und lässt dadurch das Pathos weder klebrig noch klischeehaft werden.

Das, liebe Geschichte, wäre also Ihr Reiz gewesen: Melville, die Beach Boys, Dashiell Hammett und die griechische Tragödie in einen (literarischen) Raum von Hopperscher Ästhetik zu setzen, sie aus dem Fenster auf die Brandung schauen zu lassen und zu sehen, was sie sich dabei zu sagen haben. Alle kommen zu Wort, doch sie reden aneinander vorbei. Die Geschichte muss mit einem Trostreiz nach Hause bzw. zu Ende gehen.

Nunn will sich nicht allein auf die Metapher des Wellenreitens verlassen, sondern mehr als das Buch verkraften kann. Er verirrt sich in einer narrativen Wildnis - so, wie seine Protagonisten die Wildnis der unzugänglichen nordkalifornischen Küste durchirren. Jeder von ihnen ist auf der Suche nach einem Leben. Jack Fletcher, eine der drei Stimmen des Romans und abgehalfterter Surf-Fotograf, lebt vornehmlich von Bier, Tranquilizern und seiner Vergangenheit als gefeierter Draufgänger mit unnachahmlichen Gespür für den hot shot - der Bogey-Typ. Er ist auf der Suche nach einer Zukunft, die den Namen verdient. Drew Harmon, die Surfer-Legende, hat sich in ein abgelegenes Indianerreservat zurückgezogen, das ebenso unwirtlich ist wie er selbst. Er, der von Haiangriffen Gezeichnete, sucht nach Transzendenz in den rauen nordkalifornischen Winterwellen, den "Dogs of Winter", die dem Buch seinen Originaltitel gaben. Wie seine labile Frau Kendra versucht er überdies, an der Wald- und Seeleneinsamkeit, in der sie leben, nicht vollständig zugrunde zu gehen. Kendra leiht der Geschichte eine weitere Erzählperspektive. Sie kennt weder ihren Mann noch sich selbst, den Alkohol umso besser. In Mondnächten sammelt sie Kräuter, sucht uralte indianische Tanzplätze auf und eignet sich Aussehen und Identität einer unter seltsamen Umständen zu Tode gekommenen Nachbarin an.

Die dritte Stimme gehört Travis, der für den Förderungsrat der nordkalifornischen Indianer arbeitet. Sein Job ist, zwischen zwei Stämmen, die sich ein Reservat teilen müssen, einerseits und zwischen Indianern und Weißen andererseits zu vermitteln. Entfremdet von der Tradition seiner eigenen Herkunft, geschieden und ohne Ehrgeiz, gilt seine Suche einem eigenen Mittelweg und einer Abwechslung von der drögen Kaff-Routine. Zentriert um das Ziel "Heart Attacks", einer sagenumwobenen und nie gesehenen Landzunge, die Sprünge in ungeahnte Surf-Dimensionen erlauben soll, treffen sich die Irrungen dieser Vier und werden zu gemeinsamen Wirrungen. Dinge eskalieren zwischen Menschen, Rassen und Natur.

Aber es fügt sich nichts, weder zum Guten, noch zum Schlechten. Zuviel wird gesucht in diesem Roman und zuwenig gefunden; zuviel vorbereitet und zuwenig vollendet. Die Dinge enden, aber sie enden ohne Höhepunkt, und ein Buch mit einem solchen Potenzial braucht eine Apotheose oder ein grandioses Scheitern. (In den besten Fällen fällt beides zusammen.) Wo sich die durchaus vorhandenen Spannungen des ersten Teils im zweiten wie eine Welle brechen müssten, verlaufen sie sich parallel zueinander buchstäblich im Sand. Das kann nicht das lakonische Noir-Pathos sein, das Nunn vorschwebte. Dabei hätte er das Zeug dazu gehabt. Der Trostreiz der Geschichte besteht nämlich in den eindrucksvollen Passagen über das Surfen in Kälte und Regen. Und über das Ausgeliefertsein an tödliche Küsten und Menschen. Keine Sonne, keine Posen, kein Kaugummikauen oder Breitbeiniggehen.

Die Coolness liegt im Zustand der Überwindung aller Widrigkeiten durch die Meditation auf dem schmalen Brett; sie liegt im Kampf darum. Wie schon bei Crane bekommt der geliebte Feind kreatürliche Züge, das Surfen die Züge eines drachentöterhaften Duells. Die "Dogs of Winter" haben eine "lip" und ein "face", und Jack Fletcher kann "in die Zähne des dunklen Ungeheuers" blicken, ohne dass das einen Augenblick lang kitschig wirkt. Es spricht für Nunn, dass er manchmal offen lässt, ob mit dem Ungeheuer vielleicht noch etwas anderes als die Welle gemeint ist.

Joachim Otte

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