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Panorama: Wohltäter in New York: Die schicken Frauen und das Elend

Eine attraktive, allein lebende Frau im East Village von Manhattan führt ihren Freund aus Europa erstmals durch den Tompkins Square Park, der direkt vor ihrem schönen Appartement-Komplex liegt. Der Freund staunt ein wenig, als seine Partnerin im Vorbeigehen mit großer Wärme einen alten Obdachlosen grüßt, der hier offenbar jeden Tag auf einer Parkbank sitzt.

Von Andreas Oswald

Eine attraktive, allein lebende Frau im East Village von Manhattan führt ihren Freund aus Europa erstmals durch den Tompkins Square Park, der direkt vor ihrem schönen Appartement-Komplex liegt. Der Freund staunt ein wenig, als seine Partnerin im Vorbeigehen mit großer Wärme einen alten Obdachlosen grüßt, der hier offenbar jeden Tag auf einer Parkbank sitzt. Er grüßt mit tiefer, zuvorkommender Stimme zurück und mustert wohlwollend den Begleiter. Dieser registriert etwas verwundert, wem er hier vorgeführt wird. Fast jedes Mal, wenn er in den nächsten Tagen durch den Park läuft, sieht er andere Frauen, die dem Eindruck nach beruflich erfolgreich sind und den alten Mann auf der Bank herzlich grüßen. Manche bringen ihm etwas zu essen, gelegentlich bekommt er etwas Geld. Irgendwelche Gefühle muss dieser Mann in ihnen ansprechen. Oder wie kommt es, dass in einer einst schmuddeligen Gegend, die sich zu einem Anziehungspunkt für Modeleute und Nightlife entwickelt hat, hinzugezogene, trendige Frauen einen alten Obdachlosen unterstützen? Die Antwort kommt prompt: "Das ist der einzige Gentleman in ganz New York".

Man sagt den New Yorkern einiges nach, Charme und Warmherzigkeit gehören eher nicht dazu. In diesem Meer der Coolness gibt es eine kleine Insel, und die befindet sich offenbar am nordöstlichen Ende des Tompkins Square Parks.

Die Obdachlosen am anderen Ende des Parks werden dagegen von den gleichen Frauen keines Blickes gewürdigt. Wahrscheinlich sind sie keine Gentlemen.

Bürgermeister Rudolph Giuliani rühmt sich, das Problem der vielen Bettler gelöst zu haben. Heute leben weniger Menschen auf der Straße als vor zehn Jahren, aber es gibt sie immer noch. Und nach wie vor sind es zumeist Schwarze.

Zu den verschiedenen Milieus in Manhattan gehören verschiedene Bettler. An der schicken Fifth Avenue, Ecke 58. Straße, liegt das Nobelkaufhaus Bergdorf Goodman. Hier finden Frauen die edelsten und teuersten Kleider in New York. Wer besonders ausgefallene Neuigkeiten von Designer-Laufstegen sucht, hier kann er sie bekommen. Zehn Meter entfernt von dem Schaufester mit Schuhen von Manolo Blahnik - sie sind derzeit das Hippste in New Yorks Schickeria - liegt eine junge, schöne Frau auf dem Gehweg, halb aufgerichtet. Auf den ersten Blick wirkt sie aufreizend elegant, der Vorübergehende denkt zuerst, sie sei vielleicht hingefallen und brauche Hilfe. Dann sieht er den Bettelbecher, stutzt. Die Frau, an der keine Spuren der Verschmutzung zu sehen sind, hat sich aus einem schwarz glitzernden Müllsack sorgfältig ein Kleid geschnitten. Mit dünnen Trägern und einem tiefen Dekolletee. Auf den ersten Blick wirkt die Bekleidung wie eine direkt nebenan gekaufte Designer-Kreation. Es sind ihre Augen, die dem Passanten deutlich machen, dass das Betteln ernst gemeint ist. Sie blicken verwirrt und traurig, und es besteht kein Zweifel, dass sich diese Frau in einer schweren Krise befindet.

Eine ältere Passantin, extravagant gekleidet und mit teurem Schmuck behangen, zückt tief betroffen ihre Brieftasche und gibt ihr einen Geldschein. Beide Frauen haben einen ausgeprägten Stilwillen, was den eigenen Auftritt angeht. Für einen Moment scheint es, als ob sich beide ähneln. Nur, dass die eine gerade auf der Sonnenseite des Lebens steht.

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