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Wohnen im Alter: Das Dorf am Ende des Lebens

Keine Alten-WG, kein Pflegeheim, kein Generationenhaus: Im Emsland entsteht ein ganzer Ort nur für Menschen jenseits der 60. Wer hier wohnt, flieht in die Gewissheit: Den Nachbarn geht’s wie mir.

Vor allem will sie sich keine Sorgen mehr machen müssen. Um nichts. „Raus“, sagt sie – und denkt an ihr altes Haus in Hessen. 38 Jahre haben sie darin gewohnt, mehr als ihr halbes Leben lang. Sie ist 61. Und jetzt soll es noch mal von vorne losgehen. Oder ein letztes Mal, das ist Ansichtssache. „Raus“, sagt sie – und denkt auch an ihr altes Leben.

Nun steht sie in Meppen, Emsland, flach, grün, leichter Wind. In ihrem Rücken türmt sich ein Berg aus Bauschutt und Sand in den Himmel, vor ihr öffnet sich die Tür eines rötlich verklinkerten Häuschens. Modell Goldmohn, Gesamtwohnfläche 94,07 Quadratmeter, abgerundete Möbelkanten, breite Türen, ein geräumiges Bad. Grundstück und Haus sind zu haben für etwa 178 000 Euro. In der Nachbarschaft: Häuser, die Anemone und Sonnentau heißen, und Männer und Frauen, die außer ihren Autos auch Rollatoren und Gehstöcke bewegen.

Sie steht in Deutschlands erstem Seniorenwohnpark.

Ein fast quadratisches Areal, 19 000 Quadratmeter groß und überwiegend Baustelle. Es ist umgeben von einem Wall, darauf erste Bäumchen, dahinter der Dortmund-Ems-Kanal. Die nächste Wohnsiedlung ist fern. 33 Häuser sollen hier Ende 2011 stehen. In denen wohnen darf nur, wer mindestens 60 Jahre alt ist. „Genau so etwas suchen wir“, sagt ihr Ehemann, 65, ehemals Projektingenieur.

Die Hessen sind zusammen mit etwa gleichaltrigen Freunden gekommen, die in der Nähe von Meppen leben. Ein Paar, das schrecklich findet, was es sieht und ahnt. „Nur unter Alten wohnen, das wollten wir nicht.“

Zwischen den Ehepaaren steht groß und kräftig wie ein Ringrichter Josef Wulf, mit weißem Haar und hellem Hemd – der Architekt und Bauherr. Wulf sagt mit lauter Stimme: „Das hier ist eine zusätzliche Möglichkeit, wie man leben kann.“ Eine Alternative zu Alten-WGs und Mehrgenerationenhäusern, zu Pflegeheim und betreutem Wohnen.

Für Josef Wulf ist die Errichtung des Wohnparks wie der erste Flug zum Mond: ein kleiner Schritt für ihn, aber ein großer für die Menschheit. Denn so etwas, sagt er, habe noch gefehlt in Deutschland, der Republik der Alten. Hier, wo schon in fünf Jahren mehr als 60 Prozent der Bevölkerung älter sein sollen als 40; wo sich der Anteil der Menschen über 65 bis 2050 verdoppelt haben soll.

Es scheint, Josef Wulf hat einen Nerv getroffen. Als im Sommer im Fernsehen ein Film über das Dorf lief, hatten sie anschließend 1000 Anfragen aus ganz Deutschland. Die meisten Grundstücke auf dem Areal sind verkauft, fast alle Mietverträge geschlossen. Trotzdem kommen ständig neue Interessenten vorbei.

„Wohnen wie in einer Urlaubsoase“, preist Wulfs Prospekt. Und die Besucher aus Hessen befinden: Ja, das ist so, wird wohl so sein, und sie betreten die hellen Räume im Goldmohn-Haus, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad. „Hier“, sagt Wulf, „können Sie sich auch unter der Dusche hinsetzen“. Spricht’s und nimmt Platz auf einem Plastikhocker, der an der Wand montiert ist. Sie verzieht das Gesicht. So alt ist sie nun auch wieder nicht. Die Freundin schüttelt entsetzt den Kopf. Ein Alltag, in dem alles so ebenerdig ist wie in Meppen, ohne Schwellen und Kanten, der gefällt ihr nicht.

Gelingendes Alter sei an die Mitverantwortung des Menschen gebunden, steht im Buch „Zukunft Altern“. Gemeint ist „gesellschaftliche Teilhabe“ der Senioren, Mitgestaltung des täglichen Lebens. Doch wer ins Meppener Seniorendorf zieht, will vor allem Ruhe. Gestalten? Höchstens den eigenen Garten. Teil der arbeitenden, sich ständig mit Nachbarn und Kollegen auseinandersetzenden Gesellschaft waren sie lange genug.

„Das hier ist kein Ghetto“, sagt Architekt Wulf. Besuch sei selbstverständlich, ja, auch Kinder, natürlich. Sein Park biete den Bewohnern „eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohne Zwangskontakte“. So heißt es in der Werbebroschüre. Noch diskutieren sie, ob eine Schranke die Einfahrt zur Siedlung regulieren soll – nur für den Fall, dass mal jemand herein will, der eigentlich nicht hierher gehört.

Die Alten im Seniorendorf in Meppen fühlen sich nicht abgeschoben, niemand hat sie dorthin gedrängt. Der Einzug ist eher Flucht aus dem jungen Weltenlärm in die Ruhe. In die Ruhe und das Wissen: Den Nachbarn geht es genauso wie uns.

„Lebensabwicklung“ ist ein Wort, das Josef Wulf benutzt, wenn er über Altersvorsorge spricht. Das klingt pragmatisch, kühl, rational – und vor allem nach Ende. Abwicklung meint gemeinhin einen Vorgang zur vorübergehenden oder endgültigen Regelung eines problematischen Sachverhalts. In Meppen wäre der problematische Sachverhalt das Alter. Und dessen Regelung ist im Vorwege nicht so einfach herbeizuführen. Weil Altern so individuell ist, wie es die Alten sind.

Vielleicht ist das Seniorendorf aber auch nichts anderes als jedes großstädtische Szeneviertel, als jeder Verein: Ein Ort, an den sich Gleichgesinnte zurückziehen. Möglicherweise ist hier also weniger das Alter entscheidend, als die gleichen Interessen. Das Alter sei eine Phase des Lebens, in der es wenige kulturelle Normen gebe, sagt Autor Hans-Werner Wahl, der gemeinsam mit einem Kollegen das Buch „Zukunft Altern“ geschrieben hat. Wer heute pensioniert wird, ist nicht alt und gebrechlich, hat gar einen großen Teil seines Lebens noch vor sich. „Die Senioren operieren in einem Raum, in dem sie selbst nicht genau wissen: Darf ich zu meinem Egoismus stehen oder nicht?“, sagt Wahl. Er nennt das die „Verunsicherung des Alters“.

Auch Josef Wulf macht sich bereits seit längerem seine Gedanken zum Altwerden. Im Urlaub vor sechs Jahren diskutierte er mit einer Gruppe Senioren. Wulf war 59 und damit der Jüngste. Warum, fragte ihn einer, glaubt ihr jungen Leute denn, immer zu wissen, wie wir leben wollen? Wulf begriff. Zurück daheim, befragte er 63 Senioren nach ihren Wünschen. Sie nannten ihm drei Schlagworte: Freiheit, Eigenständigkeit, Unabhängigkeit. Betreutes Wohnen mag wichtig und nötig sein, dachte sich der Architekt. Aber wie kann man es entzerren, aufweichen vielleicht, so dass Sicherheit und Freiheit keine Gegensätze mehr sind, sondern sich ergänzen?

Der Seniorenwohnpark ist seine architektonische Antwort auf diese Frage. Die menschliche heißt Christa Springfeld.

Kurz hinter dem Eingang zum Wohnpark liegt ihr Haus auf der rechten Seite. Nebenan beklettern Arbeiter Gerüste an einem Rohbau, gegenüber ist ein Fundament gegossen, Rohre und Eisenstangen ragen aus dem hellgrauen Zementboden. Vor der Haustür plätschert ein kleiner Brunnen, am Zitronenbäumchen hängen Früchte. Christa Springfeld trägt ein leuchtend blaues Hemd, auf dem Rücken steht in großen weißen Buchstaben „Kümmerin“. Denn Christa Springfeld kümmert sich – um alles.

Sie war in ihrem Leben schon Sekretärin und Gärtnerin, hat sich um Chefs und Grünzeug gekümmert. Vor allem aber hat sie jahrelang als Altenpflegerin gearbeitet. Sie kennt die Probleme in Pflegeheimen: zu wenig Personal, zu strikte Tagesabläufe für Menschen, die jahrzehntelang gewohnt waren, ihr Leben selbst zu organisieren. „Man kann Menschen nicht an Pläne anpassen, nur anders herum“, sagt sie. Der Seniorenpark sei die „optimale Alternative“. Und weil sie sich nun beruflich kümmert, angestellt von Josef Wulf, darf sie auch mit 57 schon dort wohnen, wo alle anderen im Durchschnitt derzeit älter als 70 sind. Gemeinsam mit ihrem Mann, der krank ist und den sie gleich auch noch umsorgt.

Morgens um neun liegt in Christa Springfelds heller Küche kein Krümel, blitzblank ist ihr Hausflur, in den kurze Zeit später eine vornehm gekleidete Nachbarin tritt. Sie hat eine Frage zu Ansprüchen auf Pflegegeld, ihr Mann ist schwer krank. „Ich komm’ nachher vorbei“, sagt Christa Springfeld. Sie kennt sich aus. Kennt auch die Gewohnheiten der bislang 15 übrigen Bewohner der Siedlung, weiß, wer lange schläft und bei wem sie misstrauisch werden sollte, wenn die Zeitung am frühen Morgen noch unberührt aus dem Briefkastenschlitz ragt. Ihr Kümmern besteht aus Erreichbarkeit rund um die Uhr. Und auch aus Kontrollgängen. Als ein Frühaufsteher seine Rollläden nicht zeitig hochzog, dann auch die Türklingel nicht hörte, rief Springfeld seine Verwandten an. Die kamen mit dem Zweitschlüssel – und fanden ihn tot in der Wohnung. Herzinfarkt.

Tod, Krankheit – beschäftigt sich, wer hier wohnt, zwangsläufig mehr mit dem eigenen Alter? Nein, sagt Christa Springfeld. Wer ins Seniorendorf zieht, der hat das schon hinter sich. Der hadert nicht mehr mit dem Verfall, er hat sich damit abgefunden. „Um als Alter“, schrieb Hermann Hesse, „seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muss Ja dazu sagen.“

So wie das Ehepaar aus Hessen, das pragmatisch den letzten Lebensabschnitt koordiniert. Nicht wie ihre Freunde, die, unternehmungslustig und schick, ans Alter erst denken wollen, wenn es beginnen wird, wehzutun. Die sagen: Wenn es uns irgendwann schlecht geht, dann kommt halt jemand und hilft. Oder nicht?

Architekt Josef Wulf, mit 65 selbst im Pensionärsalter, aber noch ohne Pläne, das eigene Büro aufzugeben, zitiert gern Goethe: „Es ist keine Kunst, alt zu werden. Die Kunst daran ist, es zu genießen.“

Von Genuss allerdings sprechen Johannes und Marliese Tenbusch nicht. Seit einem Jahr wohnen sie nun in einem kleinen Bungalow direkt neben der Kümmerin. Zurückgelehnt in dunkle Ledersessel erzählen sie von Arthrose in Händen und Knien, die es irgendwann unmöglich machte, die Treppen im alten Haus zu steigen; von der Suche nach einer seniorengerechten Bleibe – betreut und doch nicht überwacht – in der Nähe von Meppen, wo sie schon seit Jahren lebten. Johannes Tenbusch war früher Bergmann in Essen, dann lange Jahre bei der Bundeswehr beschäftigt, mal hier, mal da. Er ist in seinem Leben schon so oft umgezogen – nun soll es wirklich das letzte Mal gewesen sein. 75 Jahre sind sie beide alt, jetzt wollen sie zur Ruhe kommen. Zumindest körperlich.

Der jüngste Enkel hat Marliese Tenbusch am Computer ein Chatprogramm eingerichtet. Er erklärte ihr auch, was ein Nickname ist, ein Spitzname. Bei der Registrierung gab sie ihr wirkliches Alter an, ein Nutzer schrieb: „Was will denn die Alte hier?“ Frau Tenbusch lacht und sagt: „Da hab ich mich schnell jünger gemacht.“ Nun schaut sie gelegentlich, ob jemand aus der Familie online ist. Sechs Söhne hat sie großgezogen, die meisten sind verheiratet und haben Kinder. Fürs Foto beim Familientreffen müssen alle dicht beisammen stehen, damit nachher keiner aus dem Rahmen fällt. Sie sind sich auch sonst sehr nahe: Das Haus baute einer der Söhne für sie.

„Es ist die beste Kapitalanlage“, sagt Josef Wulf, der Pragmatiker. Von den neun bereits errichteten Häusern seien sechs im Besitz jüngerer Anleger, die Rendite sei hervorragend, die Investition absolut sicher. Wer hier wohnt, der bleibt, bis er stirbt. Jung und Alt, eng verbunden nicht durch Beziehungen, sondern durchs Geschäft, vertraglich, mit Unterschrift. „Senioren sind keine Mietnomaden“, sagt Wulf. „Die zahlen pünktlich.“

7,50 Euro kostet der Quadratmeter monatlich an Miete. Die durchschnittliche Rente lag im Jahr 2009 in den alten Bundesländern bei 990, in den neuen bei 1069 Euro, für Männer. Für jeden leicht bezahlbar sind die Meppener Preise nicht, doch sie sind auch nicht völlig unerschwinglich. Wulf jedenfalls möchte am liebsten bald die nächste Wohnanlage in der Nachbarschaft eröffnen.

Auch das Paar aus Hessen hat er überzeugt. Der Mann zieht ein Foto vom eigenen Haus aus der Ledermappe, die er unterm Arm geklemmt hält. Zeigt es stolz. Kein Vergleich zum Modell Goldmohn, schön, groß, mehrstöckig, rundum ein grüner und blühender Garten. Aber trotzdem. Hier in Meppen wollen sie jetzt noch einmal bauen, ein letztes Mal. Weit weg vom Sohn, der in Hessen lebt, und den Enkelkindern, die sie lieben, natürlich, die zu hüten aber doch irgendwie anstrengend wurde.

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