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Panorama: Wut und Unschuld

Nach dem Tod der 14-jährigen Annalisa Durante begehren die Neapolitaner erstmals gegen die Camorra auf – die Kugel galt einem Freund

Alles weiß, alles in der Farbe der Unschuld: der Sarg, die Rosen, die Kränze. Neapel trauert um die 14-jährige Annalisa, die bei einer Schießerei zwischen zwei Rivalen der Camorra umgekommen ist. Sie hatte mit der Sache nichts zu tun.

Salvatore Giuliano trägt einen großen Namen. Er stammt aus einem der mächtigsten Clans von Neapel. Samstagnacht war er wieder unterwegs, um nach acht Monaten Haft die Freiheit zu genießen, in dem mitten in der Altstadt gelegenen Viertel Forcella, das seine Familie bis vor wenigen Jahren mit absoluter Macht regierte.

Ein 19-Jähriger will hoch hinaus

Salvatore Giuliano, gerade 19 Jahre alt, ist beim Flanieren durch die Gassen bewaffnet, aber das wissen seine Freundin und die anderen beiden Mädchen nicht. Sie wissen auch nicht, dass Giuliano Todesdrohungen erhalten hatte – aus einem rivalisierenden Clan. Diesem versuchte er einen Teil des Rauschgifthandels abzunehmen, den der Clan kontrolliert.

Der 19-Jährige wollte offenbar hoch hinaus in der Unterwelt.

Kurz vor Mitternacht stehen die vier plaudernd auf der Gasse, da biegt ein Moped um die Ecke. Darauf zwei Männer, einer schießt auf Giuliano. Der schießt zurück. Drei Minuten dauert der Kampf. Danach sind alle verschwunden. Nur die 14-jährige Annalisa Durante liegt, tödlich getroffen, auf der Straße. Ob Giuliano sie, wie Zeugen gleich danach behaupten, als Schutzschild gegen seine Killer benutzt hat, ob sie gar von ihm selbst erschossen oder – eine in Neapel immer noch häufige Todesursache – von einer verirrten Kugel getroffen worden ist, das muss die Polizei klären.

Die Tötung der völlig unschuldigen Annalisa Durante – „ein Sonnenschein“, „ein Engel“, schreiben die Zeitungen – hat Neapel aufgewühlt wie selten eine Tat der Camorra in den letzten Jahren.

Von Handy zu Handy geht das letzte Foto von Annalisa, geknipst just an jenem Samstagabend: lange blonde Haare, strahlende grüne Augen, ein bezwingendes Lächeln. An allen Wänden kleben Trauerzettel, und bei manchen steht dabei: „Befreien wir uns von diesen Monstern!“, „Lasst uns leben!“

Alljährlich sterben Gangster durch die „Abrechnungen“, wie die Camorra-Morde meist genannt werden. Annalisa war nicht das erste unschuldige Opfer. Im November 2000 war ein zweijähriges Mädchen tödlich getroffen worden – der Anschlag hatte ihrem Vater gegolten, der sie gerade im Arm hielt.

Neapels Bürgermeisterin Rosa Russo Iervolino will die Camorra „aus dem Viertel, aus ganz Neapel verbannen“ – und in Forcella, sagt die Polizei, sei etwas Ungewöhnliches passiert: Während sie bisher bei der Suche nach Verbrechern der Camorra immer auf eisernes Schweigen gestoßen sei, kenne sie jetzt bereits die Namen der beiden Killer. Diese müssten nur noch gefunden werden.

Neapel, so ging die Sage in den letzten Jahren, habe sich aus dem Würgegriff der Camorra befreit, sei „wie neugeboren“. Mafia-Experten sagen indes, das Problem habe sich nur verlagert: Die großen alten Clan-Chefs seien abgetreten, spektakulär verhaftet oder – wie etliche Giulianos – zu reumütigen Mitarbeitern der Polizei geworden. Die Jungen aber seien völlig unberechenbar: nervös, überreizt beim Kampf um einzelne Straßenecken, möglicherweise selber zugedröhnt von den Heroin-Derivaten und anderen Drogen, mit denen sie das große Geld verdienen wollen.

Die klassischen Clan-Kämpfe mit ihrem Ehrenkodex – etwa dem Schutz von Frauen und Kindern – gebe es nicht mehr, sagt Neapels Generalprokurator Vincenzo Galgano. Die Camorra sei heute „extrem zersplittert“ in kleine Banden, völlig unübersichtlich, „und deshalb umso gefährlicher“: „Die schießen blind drauflos, wie die Verrückten.“

Kein Ehrenkodex mehr

Im heruntergekommenen Armeleuteviertel Forcella – nur einzelne Camorraleute dort sind reich – beklagen sich die Bewohner, Stadt und Polizei ließen sie im Stich: „Keiner traut sich hier rein, das Viertel wird nicht saniert es gibt auch kein Wachzimmer.“ Doch Polizeichef Franco Malvano wehrt sich: „Ihr müsst uns schon sagen, auf wessen Seite ihr steht. Bisher habt ihr uns immer Müllsäcke und Steine entgegengeschleudert, wenn wir bei euch einen Verbrecher verhaften wollten.“ Inzwischen ist Salvatore Giuliano in Neapel aufgespürt worden. Er sagt zu jenem Anschlag nur: „Ich weiß nichts. Ich habe nicht geschossen. Ich habe nur versucht zu fliehen.“

Den Angehörigen des Opfers, den Menschen des Viertels bleibt die Trauer. Mit einem großen Trauerzug wurde Annalisa Durante am Dienstag beerdigt.

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