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Panorama: Zeichen und Wunden

Ein Kind wird gequält, weil es eine dunkle Haut hat. Eine Stunde lang, in einem Dorf in Sachsen-Anhalt. Aber keiner hat etwas gesehen oder gehört – und kommen sehen schon gar nicht

Von Frank Jansen

Der Anblick könnte gemalt sein. An einem Weiher wuchern Gras und Löwenzahn, Birken schwanken im Wind. Auf der Wiese Parkbänke, in der Ferne eine alte Mühle. Außer dem Rauschen des Windes ist nur das Quaken der Frösche zu hören. Im Vordergrund steht ein rustikales, hölzernes Doppelbankgestell mit Tisch und Dach, wie man es von Raststätten kennt. Das sanfte Bild lädt zum Hinsetzen ein, zum Ausruhen. Man kann sich die niedrigen, sanierten Bauernhäuser anschauen, die an drei Seiten den Weiher einrahmen. Oder den Blick über die grob gepflasterte Straße wandern lassen, die an den Gehöften vorbei ins Dorf führt. Es fehlen nur noch Pferdewagen, beladen mit Heu, die über das Pflaster rappeln. Kann das ein Tatort sein?

Auch der Name des Dorfes klingt niedlich: Pömmelte. Man denkt vielleicht an Äpfel, nicht an Folter. Doch hier ist es geschehen, im 700 Einwohner zählenden Ort nahe der Elbe, eine halbe Autostunde südlich von Magdeburg. Am 9. Januar quälte eine rechte Clique ein Kind. Die Haut des 12 Jahre alten Kevin K. ist dunkel, der Vater Äthiopier. Das reichte, um eine Gewaltorgie zu veranstalten, die das übliche Nazi-Geprügel noch übertrifft.

„Pömmelte“ schockte über Sachsen-Anhalt hinaus. Tagelang waren Journalisten im Dorf. Der damalige Landesinnenminister Klaus Jeziorsky rang nach Worten. „Es ist unfassbar, was in den Köpfen solcher Täter vorgeht“, sagte der CDU-Politiker. Dann ebbte das öffentliche Interesse ab. Jetzt schwillt es wieder an – am heutigen Mittwoch beginnt im Amtsgericht der Kreisstadt Schönebeck der Prozess gegen die vier mutmaßlichen Folterer.

Drei Angeklagte, die Schüler Morten D. und Steven W. sowie sein Zwillingsbruder, er heißt auch Kevin, ein Auszubildender, sind 16 Jahre alt. Sie befinden sich auf freiem Fuß. In Untersuchungshaft sitzt nur der 20-jährige Gleisbauer Francesco L., der Anführer. Die Vornamen der vier jungen Männer künden vom Fernweh ihrer einst in der DDR eingeengten Eltern – und stehen im bizarren Kontrast zum offenkundig dumpfen Tatmotiv.

Am Abend des 9. Januar steigen das spätere Opfer und die vier Jungrechten in den Bus, der von Schönebeck nach Pömmelte fährt. Mit den Worten „nun lauf!“ herrscht Morten D. den Gymnasiasten an, schneller den Bus zu betreten. Und Morten setzt sich grinsend neben den verängstigten Kevin K. Dann steht er auf, schlägt Kevin mit der Hand auf den Kopf und geht zu seinen lachenden Kumpanen. In Pömmelte steigen die Clique und Kevin aus. Was sich dann abspielt, lässt sich weitgehend aus Kevins Aussage und Teilgeständnissen dreier Angeklagter rekonstruieren.

Francesco L. putscht seine Freunde auf: „Mein Dorf ist seit 20 Jahren rein“, ruft er, und dann: „Den schnappen wir uns!“ Die Gruppe umzingelt Kevin. Francesco L. hält ihm eine Gaspistole an den Hals, droht mit „Abknallen“ und fragt: „Bist du Deutscher?“ Kevin bejaht, doch er muss mit. Die Clique stoppt am Weiher an der überdachten Doppelbank. Francesco L. sagt „Ausländervieh“. Die Kumpels verstehen es als Signal: Jetzt legen wir los.

Sie spucken Kevin ins Gesicht, er muss gegen seinen Willen Bier trinken, es folgen die ersten Faustschläge ins Gesicht. Morten D. stellt sich auf den Tisch und drückt mit seinem Springerstiefel den Kopf des Opfers auf die Platte. Weitere Schläge. Francesco L. greift Kevins Kopf und rammt ihn mit seinem eigenen. Dann schlägt er dem Schüler mit einer Bierflasche ins Gesicht. Und mit dem Griff der Gaspistole. Morten D. und einer der Zwillinge springen gegen Kevins Oberkörper. Der Junge wird gezwungen, „jawohl, mein Führer“ zu rufen. Francesco L. und Morten D. ziehen ihn zu einem Schotterweg. Die Clique stellt sich auf zum „Skinheadtanz“ – Kevin wird geschubst und bekommt reihum Kniestöße in den Magen, Tritte, als er am Boden liegt. Kevin muss Stiefel ablecken. Und die Gang uriniert auf den Kopf des wimmernden Jungen.

So geht es eine Stunde. Beinahe hätte Kevin noch ein Auge verloren. Francesco L. hält ihm eine brennende Zigarette ans Gesicht. Er will ins linke Auge treffen, doch Kevin zuckt – und L. drückt die Zigarette auf dem Lid aus. Kevin schreit, die Clique reagiert mit Tritten. Dann haben die Schläger genug. Bis auf L., der Kevin noch prügelt und würgt, als die anderen weg sind. Bevor er von dem Jungen ablässt, droht er ihm mit dem Tod, sollte Kevin jemals die Täter nennen.

Kevin hat nur knapp überlebt. Im Krankenhaus werden 34 Verletzungen diagnostiziert – darunter ein Schädel-Hirn- Trauma, eine Nasenbeinfraktur, die Verbrennung am linken Augenlid und zahlreiche Blutergüsse. Erst nach drei Wochen kann er die Klinik verlassen.

„Nachts kommen bei Kevin die Bilder wieder hoch“, sagt Thomas Kämmer, Experte für Opferrecht in der Kanzlei des Hannoveraner Anwalts Ulrich von Jeinsen. Kämmer und ein Berliner Anwalt kümmern sich, nicht nur juristisch, um Kevin. Sie bemühen sich um Spenden, einen Erfolg hat Kämmer schon erzielt: Im Juni wird Kevin mit seinem Vater zu einer Delfin-Therapie nach Florida reisen.

Journalisten bittet Kämmer, vorerst auf Kontakt mit Kevin zu verzichten. Auch der Vater steht nicht für ein Gespräch zur Verfügung. Die Mutter leidet bereits länger unter psychischen Problemen und befindet sich in Behandlung. Das schwierige Binnenleben der Familie war der wesentliche Grund für die Entscheidung eines westdeutschen Jugendamtes, Kevin nach Pömmelte zu schicken. Dort gibt es seit 1995 das „Klick“, die kleine, beinahe familiäre Kinder- und Jugendwohngemeinschaft des Schönebecker Diakonievereins. Das Klick, in einem hübschen Bauernhaus gegenüber der Kirche untergebracht, ist in Pömmelte ein Fremdkörper.

„Wir sind hier nur geduldet“, sagt eine Erzieherin. Kürzlich hätten Jugendliche im Hof einen jungen Baum ausgerissen. Vielleicht kamen sie aus dem Nebenhaus. Hier wohnt Morten D. Am Eingang steht ein stämmiger Blonder. Mürrisch nuschelt er, „ich bin der Zwillingsbruder von Morten“. Was denkt er über den Angriff auf Kevin? „Ich steh’ zu meinem Bruder, aber die Scheiße hätte nich’ sein müssen.“ Ein Kumpel nickt. Er ist dunkelhäutig, „mein Vater war Kubaner“. Fürchtet er sich nicht in Pömmelte, nach der Horrortat? Er blickt feindselig, „nee“. Und er will nicht sagen, warum er hier ist und was ihn mit Familie D. verbindet.

Der Auftritt der beiden wird noch ein wenig seltsamer, als Pömmeltes Bürgermeister später erzählt, Morten D. habe keinen Zwillingsbruder. Am Nachmittag dann will man von Morten wissen, was die Täuschung sollte. Die Antwort: „Verpiss dich.“ Eine Frau in der Nähe ruft, „ich lass’ gleich den Hund raus!“ Ein Versuch, mit der Familie von Francesco L. zu reden, endet ähnlich. Die Großmutter keift, „haun’ Se bloß aus Pömmelte ab!“

Bürgermeister Thomas Warnecke verschränkt die kräftigen Unterarme. „Mich hat es ganz schön überrascht, dass die Tat dermaßen brutal war.“ Fragen, ob Warnsignale übersehen wurden, wehrt der parteilose Freizeitpolitiker ab. „Was stellen Sie sich vor? Soll der Bürgermeister darauf achten, dass die Bürger artig sind?“ Doch Warnecke muss zugeben, dass es Alarmierendes gab. Im September schloss die Gemeinde den Jugendklub, weil er ständig verwüstet wurde. Warnecke vermutet, Francesco L. und Morten D. hätten da mitgewirkt. Einen Monat vor dem Angriff auf Kevin schlug L. den Sohn einer Gemeinderätin. Den Fall wird das Schönebecker Gericht nun mitverhandeln. Ende 2005 wurden Laternenmasten mit Rudolf-Heß-Aufklebern bepflastert – von Francesco L. und Morten D.?

Als im Januar die Aufregung über Pömmelte hereinbrach und sich nach der raschen Festnahme der Tatverdächtigen herausstellte, dass zwei aus dem Dorf stammen, hat der Bürgermeister reagiert. Gemeinsam mit der Leiterin des Diakonievereins, Pfarrerin Annett Lazay, veranstaltete Warnecke ein Bürgerforum, einen Runden Tisch und ein Jugendforum. Der Jugendklub wird jetzt renoviert und soll demnächst wieder öffnen. „Aber nur mit einer ABM-Kraft, die aufpasst“, sagt Warnecke. Ansonsten hofft er, dass Pömmelte endlich in Ruhe gelassen wird.

Kevins Leiden hat mindestens eine Stunde gedauert. Der Junge weinte und schrie. In den Häusern am Weiher will niemand etwas gehört haben. „Ich sitze abends vorm Fernseher“, sagt eine ältere Frau. Ein Nachbar hebt die Schultern, „mein Büro ist nach hinten raus“. Ein Dritter sagt, „ich habe nichts gehört, kein Kommentar“. An der Doppelbank stellt ein Mann eine Flasche Bier auf den Tisch und leint seinen Hund an. „Ich weiß nichts“, sagt der Mann, „ich bin nicht von hier. Fragen Sie mal woanders.“

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