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Panorama: Zeit der Unschuld

Billy Tsangares geht es ausgezeichnet. Sein Kleider-Versand läuft neuerdings wie geschmiert.

Billy Tsangares geht es ausgezeichnet. Sein Kleider-Versand läuft neuerdings wie geschmiert. Von der jüngsten Produktlinie hat der Designer aus dem kalifornischen Los Feliz seit letztem Monat über 1000 Exemplare verkauft: Ein schwarzes T-Shirt, vorne das Gesicht der Schauspielerin Winona Ryder. Darunter der Aufdruck: "Free Winona". "Die Leute sind ganz verrückt danach", so Tsangares in einem Interview.

Der Geschäftsmann hat das Shirt einen Tag nach dem 12. Dezember in seinen Katalog aufgenommen - der Tag, an dem Winona Ryder festgenommen wurde. Die Schauspielerin war dabei beobachtet worden, wie sie in einem Kaufhaus in Beverly Hills Ladendiebstahl begang. Polizisten fanden in ihrer Tasche Kleidung im Wert von mehreren tausend Dollar, dazu verschreibungspflichtige Medikamente, für die Ryder kein Rezept vorweisen konnte.

An ihren Fingern soll Blut geklebt haben: Überwachungskameras hätten angeblich aufgezeichnet, wie Ryder, bevor sie das Geschäft verliess, mit einer Schere hastig die Sicherheitsettiketten von den Kleidungsstücken entfernte. Bis heute bewegt sich die Dreißigjährige allein deshalb auf freiem Fuß, weil sie eine Kaution hinterlegt hat.

Wenige Tage nach dem Vorfall stand die Klageschrift: vierfacher Rechtsbruch. Bei einer Anhörung vor Gericht plädierte Ryder auf "Nicht schuldig". Wird sie jetzt trotzdem schuldig gesprochen, kann der Richter sie für drei Jahre ins Gefängnis schicken.

Vom Kaufhaus in den Knast? Winona Ryder ist als Schauspielerin angesehen und war noch nie durch Skandale aufgefallen, Gefängnis kommt da also überhaupt nicht in Frage. Dennoch lässt die amerikanische Bevölkerung mit "Free Winona" - in Tradition des "T-Shirt-Protest" - nicht locker, wohl deshalb, weil der Fall so aufgebauscht wird.

Früher stahl sie Comics

Die US-Medien spekulieren, warum Ryder, die nicht in finanziellen Schwierigkeiten stecken soll, unbedingt klauen musste. Die Presse munkelt, dass die Schauspielerin gelegentlich unter Verwirrungszuständen leide. Jüngst fand ein englisches Musikmagazin eine Erklärung und titelte: "How Rock destroyed Winona Ryder". Ihr Freundeskreis, der sich hauptsächlich aus Musikern zusammensetzt, sei schuld.

Inzwischen hat die US-Presse auch eine Anekdote aus früheren Tagen hervorgekramt: Ryder wurde schon einmal beim Stehlen erwischt, es ging dabei um Comics. Damals war Ryder noch ein Kind und trug den Nachnamen Horovitz. Sie lebte mit ihren Eltern und den Geschwistern in Minnesota, auf einem Bauernhof ohne Strom. Als die Polizei Winona nach Hause brachte, sei die Familie ziemlich sauer geworden. Sauer auf die Polizei. Die Familie wollte die Beamten sofort zusammenschlagen.

Wer will, kann also auch bei den Eltern, die Hippies waren und ihren vier Kindern viele Freiräume gewährt haben, nach Gründen suchen. Oder gleich bei deren Freunden: Ryders Taufpate nämlich war der LSD-Guru Timothy Leary. Die Familie Horovitz, ein Anarcho-Clan. Zumindest ist es die Rolle der rebellischen Teenagerin, mit der Ryder Ende der Achtziger als Schauspielerin bekannt wird. Sie spielt das okkultvernarrte Mädchen in Tim Burtons Horror-Komödie "Beetlejuice" (1987), später prägt sie als eine Art "Generation X"-Modell den High-School-Film "Heathers" (1989), 1994 das Twenty-Something-Drama "Reality Bites". Schauspielkollegen und Regisseure sind hingerissen von ihr: nur äußerlich mädchenhaft, bringt die junge Ryder in ihren Rollendarstellungen eine bewegende, traurige Weisheit zum Ausdruck.

In dieser Zeit des frühen Ruhms passierte es auch, dass Ryder sich wegen akuter Angstzustände, Depressionen und Schlaflosigkeit für längere Zeit in ein Krankenhaus einliefern lässt; ihre Traumrolle, die der Mary Corleone in "Der Pate III", hat sie deshalb absagen müssen.

Den Karrierehöhepunkt erreicht Ryder 1994 - mit einer Darstellung allerdings, in der sie nicht die Eigensinnige verkörpert. Für ihre Rolle als betrogene, aber duldsame Ehefrau in Martin Scorseses Historien-Drama "Zeit der Unschuld" erhält sie eine Oscar-Nominierung. Ein Jahr später folgt für "Little Women" eine zweite Nominierung. Danach bleiben die Erfolge aus, in den letzten Jahren blieben auch die großen Rollen aus, und Ryder zieht sich zunehmend zurück.

Ein schleichender Rückzug, zwar von der Schauspielerei, aber nicht von der öffentlichen Bühne. Seit Mitte der Neunziger sind es zunehmend Musikerkreise, in denen Ryder sich bewegt. Sie führte Beziehungen mit dem "Soul Asylum"-Sänger Dave Pirner, mit Beck, Ryan Adams, und aktuell, dem Indiepop-Newcomer Pete Yorn. Winona Ryder, die sei die "Bienenkönigin des Backstagebereichs" ("Q"): fest im Schlepptau von U2 habe sie sich im letzten Jahr befunden und feierte mit der Band bei nahezu jedem US-Konzert durch die Nacht. Und nicht nur das: Im Moment sei Ryder viel mit ihrer Freundin unterwegs, der Sängerin Courtney Love; die wiederum ist bekannt als schwierige Person und ein Hassobjekt vieler amerikanischer Musiker.

Freiheit und Zügellosigkeit

Vielleicht denkt Ryder ja tatsächlich, dass sie von einer Teilnahme am Leben kalifornischer Rockstars nur profitieren kann: es böte ihr möglicherweise ein höheres Mass an Freiheit und eine Zügellosigkeit, wie die Schauspielerei ihr das nicht geben könnte. Dennoch: nur um das alles unter Beweis zu stellen, hätte sie nicht stehlen müssen. Das Rockstar-Milieu reicht als Entschuldigung wohl nicht aus.

"Niemals würde ich es wagen, jemanden als verrückt zu bezeichnen", sagte Ryder in einem Interview zu ihrem letzten großen Film, dem Drama "Girl, Interrupted", der im Jahr 2000 Aufsehen erregte. Darin spielt Ryder ein 18-jähriges Mädchen, das einen halbherzig ausgeführten Selbstmordversuch begeht, für geisteskrank erklärt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Das Projekt lag der Schauspielerin am Herzen: die Filmrechte hatte sie sich sechs Jahre zuvor schon gesichert. "Wenn überhaupt, dann ist die ganze Welt verrückt, wir alle sind verrückt, haben seltsame Bedürfnisse. Es hängt alles ausschliesslich davon ab, wie gut wir uns kontrollieren können." Es sei das erste Mal gewesen, so Ryder, dass sie mit ihrer Darstellung in einer Rolle vollkommen zufrieden gewesen sei.

Jetzt ist es der Rummel um ihre Person, der verrückte Ausmaße annimmt. Bereits kurz nach dem Vorfall im Kaufhaus sagte Mark Geragos, Ryders Anwalt, dass es sich bei dem vermeintlichen Diebstahl um einen Irrtum handele. Die Schauspielerin habe für alles, was angeblich gestohlen war, Quittungen.

Wie wäre denn das: ein zerknüllter Kaufbeleg, den Ryder später noch finden wird, und ein Sicherheitsangestellter, der sagt, dass er sich geirrt hat?

Sassan Niasseri

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