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Panorama: Zum Nachtisch Kokain

Wie Espresso: In Großbritannien werden harte Drogen gesellschaftsfähig

Die Kinder sind im Bett. „Kate“, 36-jährige Londonerin, setzt sich mit Freunden an den Tisch. Es gibt „Cocktails und gutes Essen, gefolgt von Kokain“, berichtete die Marketingspezialistin in ihrem „Kokaintagebuch“ in der BBC: „Wir machen es nicht am Tisch, da nicht alle mitmachen. Wir haben im Schlafzimmer ein paar Linien aufgereiht, da können die Gäste sich etwas in die Nase ziehen, wenn sie wollen“. Dinnerpartys, wo nach dem Käse das Tablett mit Kokain kreist wie früher Portwein und Zigarren, sind in der Londoner Mittelschicht angeblich gang und gäbe. Polizeichef Ian Blair rief den Kokainnasen schon mahnend den mörderischen weltweiten Kokainschmuggel in Erinnerung: „Jemand musste sterben, um es zu eurer Dinnerparty zu bringen!“ Nun will er den schnupfenden Ärzten, Bankern und Journalisten auch seine Drogenfahnder schicken.

Die Briten verfallen ja in freitäglichen Massenbesäufnissen schon vielfach dem Alkoholrausch – werden sie jetzt zur „Kokain-Nation“? Beim Betriebsfest einer großen Anwaltskanzlei waren die „Lines“ zur Selbstbedienung im Klo ausgelegt, berichtet eine erstaunte Praktikantin. Wenn Prominente wie Kate Moss oder gar der Vetter der Queen, Lord Windsor, mit ein paar Gramm „Charlie“ erwischt werden, gibt es moralische Kommentare in den Zeitungen. Aber der „Celebrity Lifestyle“ mit Tanz- und Partydrogen ist längst massenfähig: Eine Linie Kokain kostet nicht mehr als ein Espresso.

Der Londoner „Evening Standard“ hat Reporter mit Wattestäbchen auf Spurensuche in die Klos einiger Londoner Clubs geschickt: In mehr als der Hälfte fanden sie Kokainspuren auf den Klo- und Mülleimerdeckeln, auf Waschtischen – überall, wo man das Pulver mit einem aufgerollten Fünfpfundschein in die Nase ziehen kann.

Eine Million Briten, jeder sechzigste, nehmen nach Schätzungen des Innenministeriums „harte“ Drogen. Eine Viertelmillion schnupfe jedes Wochenende Kokain, glaubt die Polizei. Als Wissenschaftler des Mailänder Mario Negri Instituts jüngst im Auftrag des „Sunday Telegraph“ das Wasser der Themse auf Kokainspuren untersuchten, ließ die Analyse auf täglich 150 000 Linien schließen.

Gesundheitspolitiker warnen vor den Folgen der „Epidemie“. Laut dem Toxikologen John Henry vom St. Mary Hospital hat die Hälfte der unter 40-jährigen Herzpatienten, die am Wochenende eingeliefert werden, Kokain genommen. Mediziner führen auch die steigende Zahl von Schlaganfällen bei jungen Menschen auf Kokain zurück. Finanziell fällt das zwar weniger ins Gewicht als die jährlich notwendigen 20 Milliarden Pfund für alkoholbedingte Krankheiten. Warum aber sind die Briten von so selbstzerstörerischer Lustsucht erfasst? Soziologen sehen die Wurzeln des neuen Hedonismus in der „Ich-Kultur“ der achtziger Jahre. Unter Margaret Thatcher wurden Wirtschaft und Gesellschaft liberalisiert, Klassenschranken eingerissen, der Materialismus gesellschaftsfähig. Nach dem Umbau Großbritanniens in eine Leistungsgesellschaft liegt die Verantwortung für den Erfolg bei jedem Einzelnen allein.

Der Druck, erklärt Fiona Measham, Kriminologin der Uni Lancaster, werde durch „hedonistischen Konsum“ ausgeglichen: „Work hard, play hard“, laute das Motto. Mit Blick auf die Kampftrinkerzonen und raffinierte Tanzclubs mit Designerdrogen weiß Measham, was die Briten wollen: „kontrollierten Verlust der Kontrolle.“ Drogen beschreibt sie, paradox, als „Konsumprodukte, mit denen man gegen den Druck der Konsumgesellschaft rebelliert, sich Auszeit erkauft, Platz im Kopf schafft.“

Befördert wird diese Partystimmung durch das Wohlstandsgefühl der Briten: Es wird vom wachsenden Haushaltseinkommen geschürt, das seit 1998 um über 50 Prozent stieg – aber auch von der Bereitschaft, Schulden zu machen, als gäbe es kein Morgen. 1 Billion Pfund schulden die Briten den Banken – 11 000 Euro pro Haushalt, Hypotheken nicht mitgerechnet. Sparen ist altmodisch. Ein Aufschub der Bedürfnisbefriedigung wird nicht geduldet.

Der Ökonom Tim Lening von der London School of Economics hat herausgefunden, wohin das Geld fließt: Nach einer Analyse des Branchentelefonbuchs ist in den letzten zehn Jahren die Zahl der Einträge für Aromatherapeuten um 5200 Prozent, für Schönheitsoperateure um 1780 Prozent und für Alexandertechnik um 724 Prozent gestiegen – nach der Arbeit beginnt die Selbstverwöhnung, Schluss mit „stiff upper lipp“ und disziplinierter Opferbereitschaft.

Kokaindealer stehen noch nicht im Telefonbuch. Aber die Droge wird gesellschaftsfähig. Die Unterhausabgeordnete Jenny Tongue fordert schon lange die Legalisierung von Kokain: Man müsse der Realität einfach ins Auge sehen. Nach der Hatz des Boulevards auf „Kokain Kate“ Moss verbissen sich die Medien in die Frage, ob der neue Tory-Star David Cameron als Student Kokain geschnupft hat. Er will Premierminister werden – und äußerte sich so vage, dass es schien, als wolle er die Frage bewusst in der Schwebe halten, um das altmodische Tory-Image abzustreifen. 61 Prozent der Konservativen würden ihn auch dann wählen, wenn er Kokain genommen haben sollte.

Der Kolumnist Sam Leith zählte im „Telegraph“ alle Drogen auf, die er selbst schon probiert hat – 15 Substanzen von Speed bis Salvia divinorum, auch das als Tanzdroge beliebte Pferdebetäubungsmittel Ketamin und Kokain: „Nicht mehr, als man von einem durchschnittlichen Drogentouristen aus der Mittelklasse erwarten würde“, meint er. Er gilt als Stimme des modernen Großbritannien.

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