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Panorama: Zwischen Schmutz und Putz

Christina Aguilera überrascht mit Image-Wechseln. Derzeit gibt sie sich triebhaft. Aber das wird nicht lange so bleiben

Nur ein kurzer Moment bei den diesjährigen MTV-Awards erbrachte den Unterschied zwischen Britney Spears und Christina Aguilera. Schuld daran war Madonna: Die hatte wegen enttäuschender Verkaufszahlen ihres jüngsten Albums einen publicityträchtigen Auftritt geplant und verpflichtete die zwei Teenpop-Stars kurzerhand als ihre Co-Sängerinnen. Was für ein Auftritt: Zu den Klängen von „Like a Virgin“ knutschte die Popdiva zuerst Britney, dann Christina ab. Nach dieser Einlage war die daran anknüpfende Preisverleihung nicht mehr zu übertreffen. Das Publikum war verzückt – dem ewigen Schulmädchen Britney hätte man das eher nicht zugetraut.

Rasend über die Bühne

Anders bei Christina Aguilera – von der hat man so etwas geradezu erwartet. Die Idee mit den Lesbenspielchen passt zu ihr: In den vergangenen zwölf Monaten hat die 22-Jährige mit Intim-Piercing über Schlamm-Catchen bis hin zu Fun mit Motoröl alle erdenklichen Talksoap-Themen in ihr Verhaltensrepertoire aufgenommen, die ausreichend skandalös und damit Erfolg versprechend erschienen. Früher, da kannte man sie eher als Balladensängerin, die Titelsongs für Disney-Filme singt („Mulan“) oder Weihnachts-Alben einspielt. Heute sagt sie: „Ich will den Leuten nichts vormachen. Ich folge meinen Trieben. Wenigstens tue ich nicht mehr so, als wäre ich eine eiserne Jungfrau.“

Allerdings – bei ihr, die so selten lacht, so wenig entspannt aussieht und sichtbaren Gewichtsschwankungen unterliegt, hat man im Gegensatz zu Britney Spears immer das Gefühl, als befände sie sich mit ihrer Girl-Power-Strategie auf einer Art innerem Überzeugungstrip, als wäre da mehr als nur ein durchschaubares Marketing-Konzept. Als schlummere etwas in ihr, das eben nur noch ein wenig mehr Zeit zum Erwachsenwerden braucht.

Womit wird Aguilera als Nächstes überraschen? Am Montag kommt sie für ein Konzert nach Berlin, da kann man es herausfinden. Europäische Konzertgänger sind mit Aguileras Spielchen natürlich nicht so leicht zu beeindrucken – anders als die Prüderie-geplagten US-Teenager, die sich aus dem Besuch ihrer Konzerte auch eine Art Schlüssellochblick in die Schlafzimmersitten versprechen.

Doch der Blick auf Aguileras jüngste US-Tournee, die sie zusammen mit Justin Timberlake bestritt, dem zur Zeit höchst gehandelten Popstar und früheren TV-Kollegen („Mickey Mouse Club“), fällt diesbezüglich ernüchternd aus. Komplette Familien waren in die Arenen gepilgert, und entgegen aller Befürchtungen gab es dort wenig Anlass zu Ärger: Keine entgleisten Gesichtszüge bei den Eltern während der Show oder umso erhitztere Moralpredigten auf dem Nachhauseweg.

Dabei war der eine oder andere provokante Höhepunkt durchaus eingeplant. Erstens, weil Aguilera sich im wenig Gesäss-verhüllenden Straps-Outfit präsentiert, das sie bereits in ihrem aus den Fernsehkanälen verbannten „Dirrty“-Clips trug. Zweitens, weil ihr Tanzensemble sich im Moulin- Rouge-Chic des „Lady-Marmelade“-Videos kleidet. Und drittens: Christina selbst kündigte an, bei ihrer Tournee auf einem Motorrad mit Vollgas über die Bühne zu brettern. Schockieren aber wird das hier wahrscheinlich niemanden. Also doch nur viel Rauch um Nichts?

Demnächst anspruchsvoll?

An dem schlichten Gesetz der Teenpop-Welt, nach dem das nächste Album nicht mehr durch Qualität, sondern nur durch einen noch aufregenderen ImageWechsel Aufmerksamkeit erreicht, könnte auch Aguilera scheitern. Was soll nach dieser Tournee noch kommen?

Für solche Fälle hält Aguilera ihre große Gesangsstimme parat, die ihre besondere Wandlungsfähigkeit garantiert. Sie ist – im Gegensatz zu den anderen Sängerinnen ihrer Generation – bekannt dafür, auf der Bühne tatsächlich live zu singen. Und sie wäre prädestiniert für die Interpretation anspruchsvollerer Stücke. Einen späteren Wechsel in die Soulmusik, sagt sie, traut sie sich durchaus zu. Unterm Schmutz liegt der Glanz.

Dass der Ausbruch aus alten Pop-Mustern funktionieren kann, machte unlängst Justin Timberlake deutlich: Der schaffte es, dank eines Netzwerks von Spitzen-Produzenten im Hintergrund, vom belächelten Milchbub zum einzigen weißen Darling der „Black-Music“-Szene aufzusteigen. Wenn Aguilera nach beendeter Tournee die richtigen Produzenten um sich schart, steht auch ihr die Karriere im seriösen Fach bevor. Und bis dahin? Bis dahin lässt sich das Lack-und Leder-Image noch ertragen. Schließlich hat auch eine Stil-Ikone wie Madonna noch zu Beginn ihrer Laufbahn auf einfacherem Niveau provoziert.

Sassan Niasseri

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