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Egon Bahr.

© dapd

Westdeutsche Ostpolitik: Versöhnung ohne Vergessen

Egon Bahr wirft der Jahn-Behörde mangelnden Versöhnungswillen vor und sorgt damit für einen Eklat beim Festakt für Manfred Stolpe. Wir dokumentieren an dieser Stelle einen Beitrag Bahrs zu einer Festschrift aus Anlass des 75. Geburtstags Stolpes.

Die westdeutsche Ostpolitik war erfolgreich, weil sie anerkannte, was sie ändern wollte. Manfred Stolpe, der DDR-Kirchenmann und erste Ministerpräsident Brandenburgs, spielte dabei eine wichtige Rolle.

Manfred Stolpe habe ich in den 1970er Jahren in Bonn als Gesprächspartner im Bundeskanzleramt und im Bundespräsidialamt kennengelernt. Seine Schilderungen über die Lage in der DDR waren willkommen, zuverlässig und wertvoll. Wir gingen davon aus, dass er in Ost-Berlin auch anderen als nur seinen kirchlichen Oberen berichten musste und wollten das sogar; denn es konnte nur gut sein, wenn die Führung dort jenseits der Propagandaschlachten des Kalten Krieges ein realistisches Bild dessen erhielten, was man in Bonn dachte und wünschte. Er war ein Vermittler, still und ehrlich, im Interesse von Entspannung zwischen den beiden Staaten. Nachdem die staatliche Einheit erreicht war, begann eine verleumderische Kampagne gegen Manfred Stolpe. Zu den Verdächtigungen gegen ihn formulierten Willy Brandt und Helmut Schmidt eine gemeinsame Erklärung. Es gibt nur ganz wenige gemeinsame Erklärungen der beiden. Diese kam einem ehrenvollen Verdienstorden für Manfred Stolpe gleich. Geholfen hat das nicht. Die Kampagne war schändlich.

Nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR sprach ich mit dem damaligen Innenminister Schäuble über eine Amnestie. Das lag nahe nach dem historischen Ereignis. Wenn nicht aus diesem Anlass, wann je konnte eine Strafbefreiung begründbar sein? Das Wort Amnestie war eine unpassende Bezeichnung, aber in der Sache erschien es eigentlich selbstverständlich, dass ein solcher Akt die innere Einheit Deutschlands fördern würde, ohne kriminelle Vergehen ungesühnt zu lassen. Doch die notwendige Gemeinsamkeit aller Parteien war nicht herzustellen.

Bundeskanzler Helmut Kohl verkündete damals, von allen Parteien unterstützt, das übergeordnete große Ziel, nun die innere Einheit zu erstreben und zu erreichen. An ihm jedenfalls ist der Gedanke der Amnestie nicht gescheitert. Vor der Enquete-Kommission des Bundestages erklärte er, er wisse schon, was er mit den Stasi-Unterlagen machen würde. Leider wurde er nicht gefragt, was er damit meinte. Willy Brandt, in diesem Punkt Helmut Kohl sehr nahe, wies darauf hin, dass Spanien, wenn es im Umgang mit der Vergangenheit dem deutschen Beispiel folgte, einen Bürgerkrieg auslösen würde.

Bekanntlich wurde anders entschieden. An die Stelle von Versöhnung trat die Aufarbeitung der Vergangenheit durch eine Behörde, die viel zu dem falschen Eindruck im Westen beigetragen hat, die Stasi wäre gleichbedeutend oder sogar bestimmend für die Einstellung der gesamten Bevölkerung in der DDR gewesen. Es war aber noch schlimmer: Der Westen fühlte sich selbst gar nicht betroffen. Wenn die im Osten glaubten, ihre Vergangenheit aufarbeiten zu müssen, dann sollten sie es ruhig tun. Sie hatten die Wiedervereinigung gefordert und bekommen. Was wollten sie dann noch ? Die Lebenslüge des Wortes "Wiedervereinigung" suggerierte, Deutschland sei "wieder vereinigt" - obwohl doch beispielsweise die Bundeswehr und die NVA niemals zunächst geteilt und 1990 endlich wieder zusammengefügt wurden.

In jenen Tagen, als Soldaten der Bundeswehr und der NVA in Strausberg zum ersten Mal in einheitlichen Kampfanzügen die Flagge der DDR niederholten und die der Bundesrepublik hissten, erklärte mir der Sohn des ehemaligen Mitbegründers der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone, Andreas Hermes, inzwischen Botschafter im Ruhestand, er könne es nicht ertragen, wenn sein Sohn Befehlen kommunistischer Offiziere zu folgen habe. Wenn das gelte, erwiderte ich ihm, müssten wir die Einheit aufgeben. Denn genau das werde bald normale alltägliche Realität sein. Die NVA werde nicht aufgelöst, und die meisten der übernommenen Offiziere seien wohl Mitglieder der SED gewesen. Und wenn schon Aufarbeitung, dann müsste sie gerecht sein. Ich hätte gern gewusst, welche trojanischen Pferdchen Markus Wolf in der Bundesrepublik laufen ließ. Erfahren habe ich es leider nicht.

Diese Kenntnis hätte ein Stück gemeinsame deutsche Betroffenheit geschaffen. In den Erinnerungen von Peter-Michael Diestel, dem Innenminister der ersten und letzten demokratischen Regierung der DDR unter Lothar de Maizière, ist nachzulesen, wie erstaunt dieser war, als ihm berichtet wurde, dass die wirklich wichtigen Teile der Akten vernichtet worden seien. Gerechtigkeit war damit unmöglich geworden.

Natürlich konnten auch wirklich Schuldige entdeckt werden, doch die großen Fische waren entkommen. Aber zufällige Gerechtigkeit ist schlimm. Sie ließ den Westen unbehelligt.

Der Behörde von Joachim Gauck und seiner Nachfolgerin Marianne Birthler gelang es nicht, den Fluss von Informationen zu verhindern, die Persönlichkeiten diffamierten oder deren Wahl gefährdeten. Es war jedenfalls nicht ihr zu verdanken, dass Stefan Heym seine Rede als Alterspräsident des Bundestages halten konnte.

Die Behörde trägt ein gerüttet Maß Schuld daran, dass der Stolz der Ostdeutschen verletzt oder geduckt wurde. Der kleinere und bedrängtere Teil des Volkes war es gewesen, der die Mauer gestürmt und die Einheit erzwungen hatte. Kein Westdeutscher hatte ungeduldig mit den Füßen gescharrt.

Doch der Sieger der Geschichte nutzte die Krake Stasi, die nur vier Prozent der Bevölkerung (einschließlich der IMs) in ihren Fängen gehalten hatte, um Wirtschaft, Universitäten und Institute zu säubern. Die Wirtschaft, die Banken und das Ausland holten sich, gar nicht zimperlich, die Fachleute, die sie brauchten.

Das Prinzip "Wandel durch Annäherung" hatte 20 Jahre lang die Zusammenarbeit mit Moskau und der DDR geprägt, ohne dass dabei einen Augenblick vergessen worden wäre, dass es sich in beiden Fällen um kommunistische Diktaturen handelte, die nach und nach zu Partnern einer gemeinsamen Sicherheit werden sollten. Otto Winzer, von 1965 bis 1975 Außenminister der DDR, bezeichnete diese Strategie als "Aggression auf Filzlatschen" und Brandt entschied, dies hinzunehmen.

Die Macht lag bei den vier Mächten und die Deutschen konnten ihre Interessen nur unterhalb der Siegerrechte entwickeln und zu einer Verantwortungsgemeinschaft formulieren - soweit das beide Seiten wollten oder sich trauten. Gewaltverzicht wurde zur Macht der Schwachen. Wir mussten uns anpassen.

Anpassung ist in der Evolution der Zwang zum Überleben der Gattungen. Anpassung war auch die Voraussetzung dafür, dass die Menschen in den Nischen der DDR leben konnten. Später mussten sie erfahren, dass Anpassung an Kultur und Regeln der westlichen Gesellschaft eine Voraussetzung für Erfolg ist. Wir haben umso weniger Grund, die Leistungen der Ostdeutschen gering zu achten, als es in der DDR gefährlicher war als heute, die Anpassung zu verweigern. Versöhnung, ohne die innere Einheit unerreichbar ist, muss zu allen Zeiten schwache und starke, anständige und unanständige Menschen umfassen.

Marianne Birthler hat Anfang des Jahres 2010 in einem Interview mit dem "Spiegel" ihre Definition von Versöhnung kategorisch ausgebreitet. "Versöhnung ist keine politische Kategorie, sondern etwas Persönliches." Doch die Einengung von Versöhnung auf etwas Persönliches ist Unsinn. Sie schließt aus, dass sich Völker miteinander versöhnen und das eigene Volk seine innere Einheit finden kann.

Kein Ostdeutscher ist so weit gegangen wie Hans Filbinger, der frühere CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der bezogen auf die NS-Zeit erklärte: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein." Marianne Birthler hat in ihrem Interview dem Ministerpräsidenten von Brandenburg vorgeworfen, er habe "eine Koalition mit der Partei, deren Vorläufer als SED verantwortlich für die Unterdrückung und Unfreiheit war, als Versöhnungsprojekt ausgerufen. Und das geht nicht". Marianne Birthler ist natürlich intelligent genug zu wissen, dass Versöhnung nicht für eine Koalition, sondern für die gesamte Bevölkerung angestrebt wird. Aber in ihrem arroganten Verdikt "Das geht nicht" steckt die Anmaßung, sie wäre in diesen Fragen politischer und moralischer Dimension die letzte Instanz. Schon in ihrem Streben, Manfred Stolpe keine Ruhe zu geben, erklärte sie jeden für unredlich, der das "Kartell des Schweigens" nicht breche.

Nun haben wir einen dritten Beauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, der zunächst bis 2019 Behördenleiter sein soll. Er hat für "eine offene Diskussion über Verantwortung" in der SED-Diktatur plädiert. Viele Menschen wollten nicht wahrhaben, so Jahn, dass auch sie durch Anpassung die Diktatur stabilisiert hätten. "Anpassung hatte in der DDR einen Preis, den meistens andere bezahlen mussten." Diese Erklärung ist einerseits ein Fortschritt, denn sie führt das Übel nicht auf die Stasi, sondern auf die Diktatur der regierenden Partei zurück. Andererseits ist sie ein Rückfall in altes Denken.

Die Strategie des Wandels durch Annäherung entsprach nicht nur dem Prinzip Kennedys: "Wer etwas ändern will, muss es anerkennen"; sie war auch die notwendige Voraussetzung für das Ende der DDR - und damit für die Existenz dieser Behörde. Das Eine nicht ohne das Andere. Im Laufe der Jahre hat sich zwischen Manfred Stolpe und mir eine Freundschaft entwickelt, die gestattete, auch darüber unsere Meinung auszutauschen, dass die vier Mächte die Deutsche Einheit eigentlich gar nicht wollten, obwohl sie offiziell das Gegenteil versicherten. Das war spätestens seit 1975 in Helsinki der Fall; denn die Formel des Moskauer Vertrages, dass alle Grenzen in Europa nur in gegenseitigem Einvernehmen geändert werden dürfen, ließ alle denken: Damit ist die ärgerliche Deutsche Frage für sehr lange Zeit erledigt.

Keiner konnte sich vorstellen, dass ausgerechnet die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR einvernehmlich und friedlich aufgehoben werden könnte. Berlin blieb der Schlüsselpunkt.

Als die Berliner die Mauer stürmten, mit der alles angefangen hatte, wurden die unkündbaren Sieger- und Kontrollrechte ausgerechnet hier zu bloßem Papier. Manfred Stolpe erzählte mir, im Mai 1990 sei er einer Einladung in die sowjetische Botschaft gefolgt. Er wurde dort unfreiwilliger Zeuge eines Gesprächs zwischen einem hohen Repräsentanten der USA mit seinem sowjetischen Kollegen. "Du siehst", sagte der Amerikaner auf Deutsch, "es war alles vergeblich". Die Deutsche Einheit ließ sich nicht mehr aufhalten.

Aus Anlass des 40. Jahrestages von Brandts Kniefall besuchte ich im Dezember 2010 Warschau. Der Staatspräsident und der Ministerpräsident unserer polnischen Nachbarn haben die aufregende Formel gefunden, dass die Versöhnung mit Deutschland nicht verlangt, die Vergangenheit zu vergessen. Es ist die Formel für die innere Einheit, die eine neue Wiedergeburt für unser Land gestattet: Versöhnung ohne Vergessen ist möglich.

Der Autor entwickelte als enger Mitarbeiter von Willy Brandt die Ostpolitik. Von 1972 bis 1976 war er Bundesminister, von 1976 bis 1981 Bundesgeschäftsführer der SPD.
Der Beitrag ist in einer Festschrift der Brandenburger SPD aus Anlass des 75. Geburtstags des ehemaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe erschienen.

Egon Bahr

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