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Frei schwebend: Im Osten haben viele Gastronomen keinen Tarifvertrag.

© dpa

25 Jahre Mauerfall: Die Mauer im Tarifvertrag

Noch immer verdienen Arbeitnehmer im Osten teils erheblich weniger als die Kollegen im Westen – auch im früher geteilten Berlin.

„Es wächst zusammen, was zusammen gehört“. Das hat einst Ex-Bundeskanzler Willy Brandt gesagt. 25 Jahre später trifft dieser Spruch auf viele Branchen und Regionen zu. Nach einer Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erreichten die Tarifverdienste Mitte 2014 in Ostdeutschland rund 97 Prozent des Westniveaus.

Doch innerhalb der Tarife gibt es noch erhebliche Unterschiede. So müssen die Menschen im Osten immer noch länger arbeiten als die im Westen des Landes. Die tarifliche Wochenarbeitszeit in Ostdeutschland beläuft sich durchschnittlich auf 38,6 Stunden, während im Westen 37,5 Stunden gearbeitet werden müssen. Unterschiede gibt es auch beim Urlaubsgeld. Das ist im Westen nach Angaben des WSI-Tarifexperten Reinhard Bispinck oft höher. Das mit eingerechnet liegen die Verdienste Ost tatsächlich erst bei 83 Prozent der Tarife West. „Das ist auch eine Folge der deutlich geringeren Tarifbindung, in Ostdeutschland fehlt die im Westen über Jahrzehnte gewachsene Tarifkultur“, erklärt Bispinck.

Vor allem Arbeitnehmer, die nicht unter dem tariflichen Schutz stehen, haben im Osten das Nachsehen. Sie verdienen nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) durchschnittlich 17 Prozent weniger als ihre westdeutschen Kollegen. „Das liegt daran, dass die Arbeitgeber eine regelrechte Niedriglohnstrategie gefahren haben“, meint DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell.

Hinzu komme, dass immer mehr Arbeitgeberverbände Mitgliedschaften ohne Tarifbindung angeboten hätten – die Folge sei die Tarifflucht vieler Unternehmen und die Abwanderung junger Fachkräfte in den Westen. Problematisch seien vor allem Branchen, die durch Mini-Jobs geprägt sind, wie etwa das Hotel- und Gaststättengewerbe. „2012 galt in 59 Prozent der Gastronomiebetriebe im Osten kein Tarifvertrag“, sagt Körzell. In ganz Deutschland traf dies 2010 für nur ein Drittel der Betriebe mit mindestens zehn Beschäftigten zu. Auch die Arbeitsverhältnisse in Berlin spiegeln die bundesweite Lage wider. Das Tarifniveau ist zwischen Berlin-West und -Ost zwar weitgehend angeglichen, Unterschiede bestehen aber in 13 Berliner Branchen bei der tariflichen Wochenarbeitszeit sowie bei Sonderzahlungen und vermögenswirksamen Leistungen. Das lässt sich dem Gemeinsamen Tarifregister von Berlin und Brandenburg entnehmen.

Wo Berlin heute noch geteilt ist

In sechs Branchen müssen die Beschäftigten im Ostteil der Stadt mehr Wochenstunden leisten. Im Speditionsgewerbe etwa werden in Berlin-West wöchentlich 38 Stunden gearbeitet, in Berlin-Ost 40 Stunden. Auch die Anzahl der Urlaubstage liegt in Berlin-West je nach Lebensjahr und Betriebszugehörigkeit zwischen 22 und 33 Tagen, in Berlin-Ost zwischen 25 und 29 Tagen. In der Süßwarenindustrie bekommen Arbeitnehmer im Westteil der Stadt 13,80 Euro pro Urlaubstag, im Osten nur 9,20 Euro. Auch die Ausbildungsvergütungen sind in Berlin in elf Branchen noch nicht angeglichen. So bekommt ein Auszubildender im Wäschereigewerbe in Berlin-West im ersten Lehrjahr 562 Euro, in Berlin-Ost aber nur 486 Euro. In manchen Fällen ist die Ausbildungsvergütung auch nur für eine Stadthälfte tariflich geregelt. „Allgemein sind die Tarifunterschiede innerhalb von Berlin aber nicht so groß wie für Gesamtdeutschland“, sagt Barbara Riedmüller, Sozialwissenschaftlerin und ehemalige Berliner Wissenschaftssenatorin. Auffällig sei fast nur noch die Lohnschere in der Gastronomie.

In vielen Berliner Branchen ist der letzte Anpassungsschritt an Westlöhne bereits beschlossen. Etwa in der Chemischen Industrie, weiß Torsten Kiesner, Sprecher des Arbeitgeberverbandes Nordostchemie. Die Entgeltunterschiede werden bei der Nordostchemie zum 1. März 2016 angepasst. „Wir haben für den Angleichungsprozess aber lange gebraucht, da die Industrie hier neu aufgebaut und die übernommenen Anlagen renoviert werden mussten.“

Eine vollständige Angleichung der tarifgebundenen Faktoren bis zum Auslaufen des Solidarpaktes II im Jahr 2019 hält Riedmüller in Berlin für möglich. Aber: „Mecklenburg-Vorpommern wird wirtschaftlich bis dahin sicher nicht mit Berlin gleichziehen.“ Die Tarifunterschiede führten zu geringerer Kaufkraft und Politikverdrossenheit. „Viel alarmierender ist allerdings, dass die Menschen weniger sparen“, sagt Riedmüller. „Aufgrund der steigenden Altersarmut ist das fatal.“

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