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Nicht mehr in Diensten Europas: John Dalli.

© Reuters

Affäre Dalli: Starker Tobak in Brüssel

John Dalli trat nach Korruptionsvorwürfen als EU-Kommissar zurück. Er gilt als Täter – aber er könnte auch Opfer gewesen sein.

Im Büro auf der elften Etage des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes arbeitet niemand mehr. Ausgeräumt ist es noch nicht, doch die Möbelpacker werden erwartet. Die EU-Kommission bezahlt John Dalli den Umzug in sein Heimatland Malta, drei Jahre lang soll er noch 45 Prozent seiner Bezüge als Gesundheitskommissar erhalten. „Für uns ist der Fall damit erledigt“, sagt ein Sprecher der Brüsseler Behörde.

Doch das ist Wunschdenken. Die EU-Kommission hat die Affäre, von manchen „Dalligate“ betitelt, schon mit Bekanntwerden vor zwei Wochen beenden wollen. Doch täglich löchern Journalisten die Kommission, das Europaparlament fordert Aufklärung, da die Puzzleteile kein klares Bild ergeben.

Aber der Reihe nach: Für Dienstag, den 16. Oktober, bittet EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso seinen Untergebenen Dalli zwei Stockwerke höher. Der Portugiese hat tags zuvor den Ermittlungsbericht der europäischen Antibetrugsbehörde erhalten, dessen Begleitschreiben er Dalli nun vorliest.

Die Vorwürfe, die Giovanni Kessler als Chef der Behörde darin zusammenfasst, haben es in sich. „Ein maltesischer Unternehmer“ hat demnach unter Hinweis auf seinen Freund Dalli dem schwedischen Kautabakhersteller Swedish Match angeboten, den mit Spannung erwarteten Gesetzentwurf für die neue EU-Tabakrichtlinie in seinem Sinn zu beeinflussen. Denn „Snus“ darf außerhalb Schwedens nicht verkauft werden. Um dies zu ändern, hat der maltesische Mittler „mehrfach eine beträchtliche Summe Geld verlangt“, wie das Office de Lutte Anti-Fraude (Olaf) mitteilt. Das Stockholmer Unternehmen, das nicht gezahlt und den Fall stattdessen im Mai nach Brüssel gemeldet hat, spricht von 60 Millionen Euro.

Barroso legt Dalli an diesem Nachmittag aber nicht deshalb den Rücktritt nahe, sondern weil Olafs Beweisbruchstücke „nahelegen, dass Kommissar Dalli Kenntnis von diesen Aktivitäten hatte“. Außerdem hat es einem Kommissionssprecher zufolge mehrere Treffen mit Lobbyisten der Tabakindustrie gegeben, die Dalli nicht gemeldet habe, wie das der Ehrenkodex der EU-Kommission verlangt. „Politisch untragbar“ sei der Malteser damit geworden.

Der aber bestreitet während des Gesprächs alles und will nicht zurücktreten. Beide Seiten sind sich zumindest einig, dass anschließend folgender Dialog stattgefunden hat: „Kann ich 24 Stunden darüber nachdenken?“, fragt Dalli seinen Boss, der kühl antwortet: „Sie haben 30 Minuten.“ Zwei Zeugen, Barrosos Kabinettschef Johannes Laitenberger sowie der oberste Kommissionsjurist Luis Romero, werden hinzugebeten. Sie bestätigen die mündlich akzeptierte Demission, die Dalli noch Tage später anficht, dann aber doch akzeptieren muss.

Der Kampf um die Wahrheit hält Brüssel seit zwei Wochen in Atem. John Dalli geht mit seiner Sicht der Dinge hausieren. Er ist am Dienstag auf den Fluren des Straßburger Europaparlaments gesichtet worden, am Mittwoch in Begleitung seiner ältesten Tochter vor Brüsseler Journalisten aufgetreten. Er erzählt dabei eine ganz andere Geschichte, in der er nicht Büttel der Tabaklobby, sondern deren Opfer ist. Zweimal schon sei in der Kommission der Beginn der Ressortabstimmung zu Dallis verschärftem Entwurf der neuen Tabakrichtlinie verschoben worden, berichtet Dalli in einem Interview. Mit seinem erzwungenen Rücktritt wenige Tage vor dem nächsten Termin „wird die Richtlinie wohl nie das Licht der Welt erblicken, was der Zigarettenindustrie Milliardengewinne bescheren wird“. Tatsächlich entsteht mit dem Wechsel hin zu einem neuen Kommissar eine Verzögerung, durch die es in dieser Legislaturperiode knapp wird – das Ziel der Tabaklobby und laut Dalli auch interessierter Kreise in der Kommission.

Das ist starker Tobak. José Manuel Barroso schreibt daraufhin einen Brandbrief an Dalli, den er im Gegensatz zum Untersuchungsbericht bereitwillig verbreitet. Er mahnt Dallis EU-vertraglich geregelte Verpflichtung an, „ehrenhaft und zurückhaltend“ gegenüber dem alten Dienstherrn aufzutreten. Zumal Olaf doch festgestellt habe, „dass der kommissionsinterne Entscheidungsprozess beim Thema Tabak nicht beeinflusst worden ist“. Man schreite wie geplant voran. Im Übrigen habe Dalli „mehrere Gelegenheiten“ versäumt, auf die Vorwürfe zu reagieren.

Es ist der 11. Juli, als Giovanni Kessler das Büro des EU-Gesundheitskommissars betritt und ihn über die seit Ende Mai laufende Untersuchung und erste Erkenntnisse informiert. Der frühere Staatsanwalt hat sich auf Sizilien schon die Mafia vorgenommen. Er bittet Dalli fünf Tage später zu einem langen Gespräch und Anfang September zu einem weiteren. Peu à peu dringen nun Einzelheiten nach außen. Zum Beispiel legt Dalli selbst offen, dass es sich bei dem „maltesischen Unternehmer“ um seinen langjährigen politischen Weggefährten Silvio Zammit handelt, der inzwischen als Vizebürgermeister des maltesischen Städtchens Sliema zurückgetreten ist. Mindestens zwei Treffen organisiert er mit Dalli und Tabaklobbyisten, die dieser freilich nicht erkannt zu haben behauptet. Ins Zentrum des Interesses gerückt ist vor allem eine Begegnung am 10. Februar mit einer jungen Anwältin auf Malta, die vom Brüsseler Kommissar viel über Snus wissen will. Heute ist klar, dass sie eine Swedish-Match-Lobbyistin war – und Dalli das Treffen hätte offiziell machen müssen. Dass er das wohl auch in anderen Fällen nicht gemacht hat, ist der Kernvorwurf.

„Wenn ich in Malta bin, treffe ich jeden zu jeder Frage“, sagt Dalli. Ist das nett oder naiv als politischer Akteur in einem Milliarden-Business? Ist Dalli ein Opfer? Nicht wenige in Brüssel halten das für möglich. Mindestens ein Vorwurf aber ist stichhaltig, da Dalli einräumt, bestimmte Treffen und Kontakte nicht aktenkundig gemacht zu haben. Selbst sein einstiger Sprecher Fréderic Vincent, der wie viele andere Dalli schätzte, sagt: „Er kannte die Regeln.“

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