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Wirtschaft: Albin Wolf

(Geb. 1910)||Die frühe Krankheit war sein großes Glück.

Die frühe Krankheit war sein großes Glück. Ob’s Pech ist oder nicht, wer weiß“, sagt der Bauer in der chinesischen Parabel, als ihm sein einziges Pferd davongelaufen ist. „Morgen bin ich schlauer.“ Am nächsten Morgen kommt sein Tier in Begleitung eines Wildpferdes zurück.

Albin Wolf machte eine ähnliche Erfahrung. Als er acht Jahre alt war, erkrankte er an Knochentuberkulose, musste ein halbes Jahr ins Krankenhaus, versäumte den Stoff in der Schule. Als die Ärzte ihn schließlich entließen, blieb sein Rückgrat für den Rest des Lebens verkrümmt, und er wurde nie größer als 1 Meter 50.

Er hat sein frühes körperliches Leiden später ausdrücklich als glückliche Konstellation bezeichnet, ganz der chinesischen Geschichte entsprechend. Es bewahrte ihn zumindest vor so manchem Abgrund. Als der Körperkult im nationalsozialistischen Deutschland seine hässlichsten Blüten trieb, war er ein junger Mann, doch erwartete niemand von ihm zu marschieren oder strammzustehen. Der Stempel „völlig kriegsuntauglich“ mag ihm sogar das Leben gerettet haben.

Doch sein Glück begann schon früher. Wer stellt schon mit acht Jahren die Weichen für sein Leben? Er musste es tun. Nahm seinen Körper an, so wie er war und begab sich, kaum zurück in der Schule, ganz und gar in die Welt des Wissens. Bildung und Kultur – danach hatte schon sein Vater gehungert, der im Erzgebirge in der kleinen eigenen Plätterei schuften musste. Sohn Albin wollte davon aufnehmen, so viel wie er konnte, bis ins Unendliche Wissen sammeln und behalten.

Lehrer war der nahe liegende und auch der erklärte Traumberuf. Für das Mathematikstudium ging er nach Berlin, hörte zusätzlich Vorlesungen in Philosophie und Kunstgeschichte, lernte Russisch. Doch auf Dauer wurden die Studiengebühren zu hoch, er musste abbrechen und in Anstellung gehen. Er wurde Beamter bei der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. Und fand sich damit ab. Er freute sich sogar, dass er während seiner Ausbildung weiter Vorlesungen und Seminare besuchen konnte. Später, als sein Amt Bundesversicherungsanstalt hieß, gelang es ihm, sich auf den Ausbildungsbereich zu spezialisieren.

Beim Bibliotheksbesuch in der Heimat passierte ein weiteres großes Glück in seinem Leben: Er lernte mit 40 Jahren seine Frau kennen, eine Bibliothekarin. Fortan waren die beiden Buchliebhaber unzertrennlich, wohnten über 50 Jahre zusammen in der kleinen Dreizimmerwohnung in Neu-Westend, zunächst als Großfamilie mit den Schwiegereltern und den drei Töchtern. Im Viertel gehörten der kleine Herr Wolf und seine Frau, die Hand in Hand jeden Tag zum Steubenplatz spazierten, bald zum Stadtbild. Sogar in einem Bildband über Neu-Westend sind sie zu entdecken.

Albin Wolf übersetzte für sein Leben gern italienische Opern, er versäumte keine Folge von „Wer wird Millionär“, er begleitete stolz den Lebensweg seiner drei Töchter, die alle Lehrerinnen geworden sind. „Ich bin“, sagte er mit über 80 Jahren, „formal immer noch Student der Kaiser-Wilhelm-Universität“, und zeigte den vergilbten Ausweis. Er bewahrte in sich nicht nur die Lebensdaten der preußischen Könige und die Feinheiten der italienischen Grammatik, sondern auch jede lieb gewordene Gewohnheit. Das Abonnement des Tagesspiegels, die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft und im Bücherklub, der sonntägliche Kirchgang, all das hatte einmal in seinem Leben begonnen und hörte bis zu seinem Tod nicht wieder auf. Seine Apotheke hielt er genauso in Ehren wie den Hausarzt, den Honigmann, den Brotmann, den täglichen Cappuccino im Café Gloria. Ein treuer Geist. Mit dem ehemaligen Schauspieler, den er kurz nach dem Krieg beim Anstehen für Theaterkarten kennen gelernt hatte, verband ihn bis zuletzt eine enge Freundschaft. Und mit der Familie aus New Jersey, von der er in den vierziger Jahren Care-Pakete bekommen hatte, wechselte er Briefe. Die gegenseitigen Besuche gehörten zu den Höhepunkten seines Lebens, auch wenn er sie eher still genoss.

Auch seiner alten Amtsstube wollte er nach der Pensionierung nicht wirklich Adieu sagen und richtete sich nach seiner Pensionierung zu Hause eine Art Amtsstube ein, mit Eingangsstempel für jeden Brief, der in den Postkasten fiel, mit orangefarbenem Briefmarkenschwämmchen und separatem Tisch für die elektrische Schreibmaschine. Und dennoch blieb er bis zum Schluss ungemein offen und neugierig für alles Neue. Fast hätte er sich sogar noch einen Internetanschluss zugelegt.

Als er seinen 90. Geburtstag feierte, schrieb Albin Wolf ins Tagebuch, dass alles, was er sich hätte wünschen können, längst in Erfüllung gegangen war. Als er dann nicht mehr täglich zum Steubenplatz spazieren konnte, den Cappuccino trinken, die Zeitung lesen, die Post abheften, da ertrug er es eine Weile sehr tapfer, bis er leise zu seiner Tochter sagte: „Vorrei morire“. Am vorletzten Tag des Jahres 2005 blieb sein Herz nach 95 Jahren stehen.

Kirsten Wenzel

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