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Kapitalismus, nein danke: Immer mehr Menschen protestieren – wie hier in Berlin – gegen den Massenkonsum und die Macht der großen Konzerne.

© picture alliance / dpa

Alternativ wirtschaften: Zeit ist Geld

Bei der „Time Bank“ hilft man anderen, dafür werden Stunden gut geschrieben. Ein Projekt von vielen: In Berlin boomt die neue Ökonomie des Teilens.

Von Aleksandra Lebedowicz

Berlin - Im Atelier von Julieta Aranda und Anton Vidokle ist nichts so, wie es scheint. Der unscheinbare Laden, der sich im Erdgeschoss eines Altbaus in Prenzlauer Berg verbirgt, ist zugleich Filiale einer weltweit operierenden Bank und jeden zweiten Sonntag im Monat Schauplatz einer kleinen ökonomischen Revolution. Aranda und Vidokle veranstalten hier ihr „Time Food“ – ein Pop-up-Restaurant mit subversivem Ansatz: Für die servierten Menüs bezahlt man nicht in Euro, sondern mit einer halben Stunde. Zeit ist Geld – das ist das Motto der „Time Bank“, eines Projekts, mit dem Julieta Aranda und Anton Vidokle, ein Künstlerpaar aus New York, seit 2009 um die Welt reisen. Es ist eine Art Parallelökonomie für die Kunstszene.

Die Währung der „Time Bank“ ist Zeit. Jeder, der eine Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft erledigt, verdient Kreditstunden. Diese können dann als eigenes Konto-Guthaben gespart oder für größere Projekte gespendet werden. „Wir fragen nach dem Wert der Zeit, aber nicht in Euro oder Dollar, sondern in Sachen, die man braucht“, sagt Aranda. Ein Gespräch über ein Kunstwerk kann demnach genauso viel wert sein, wie das Fahrrad zu reparieren oder den Hund auszuführen. In Berlin gibt es mittlerweile 140 aktive „Time Banker“.

„Time Bank“ sei ein Versuch, das herrschende Wertsystem neu zu definieren, betont Aranda. „Jeder ist beteiligt, gibt seine Zeit her und kann etwas zurückfordern, was Zeit kostet. Man redet miteinander, und schaut sich dabei in die Augen.“ Das „Time Food“, ein zweistündiges Lunch, das Aranda und Vidokle seit Februar organisieren, gehört dazu. Zwischen 20 bis 40 Gäste treffen sich am Sonntagnachmittag, um gemeinsam zu essen. Die Menüs werden einige Tage im Voraus online bekannt gegeben. Jeder darf sich anmelden. Und falls er keine Kreditstunden auf dem Konto hat, reicht es, wenn er seine Fähigkeiten und sein Wissen „deponiert“, die andere „Time Banker“ irgendwann nutzen können.

Projekte wie die „Time Bank“ zeigen, wie sich das Verhältnis der Menschen zur Wirtschaft und insbesondere zu den großen Konzernen verändert. Immer weniger sind zum reinen Konsum bereit und wollen Ressourcen bewusster nutzen. Etwa mit Swapping – Tauschen statt Kaufen – in der Neuköllner Kneipe „Gelegenheiten“. Alle zwei Monate finden dort Kleidertauschpartys statt, die „Trocs“. In den Räumen einer ehemaligen Fleischerei werden Wäscheleinen aufgespannt und nach und nach mit Hosen, Blusen, Röcken oder Jacken behängt. Der Klamottentausch beruht auf dem Prinzip des „Fair Use“. Was aufgehängt und mitgenommen wird, wird nicht kontrolliert. Die einzige Regel lautet: Klasse statt Masse. Ansonsten kann sich jeder greifen, was ihm gefällt. Und was am Ende des Abends übrig bleibt, wandert an eine gemeinnützige Institution.

Die Ökonomie des Teilens taugt aber auch als Unternehmensmodell. Das Internet wimmelt von Start-ups wie Airbnb, Kickstarter und Etsy, die sich soziale Kooperation und nachhaltiges Wirtschaften auf die Fahnen schreiben. Statt auf industrielle Massenprodukte, setzen sie auf handgefertigte Einzelstücke. „Wir treiben eine neue, am Menschen orientierte und vom Einzelnen mitbestimmte Wirtschaft an“, sagt Chad Dickerson, der Geschäftsführer von Etsy. Die Verkaufsplattform mit Sitz in der Ritterstraße in Kreuzberg verzeichnet seit der Gründung 2005 rasante Wachstumsraten. Mit inzwischen 15 Millionen Mitgliedern und mehr als 875 000 aktiven Shops versammelt sie weltweit Kleinunternehmer und Verkäufer von handgemachten Produkten. 2011 ging über 96 Prozent der erwirtschafteten 525 Millionen Dollar direkt an die Verkäufer.

Die Plattform bietet den Verbrauchern Produkte, hinter denen authentische Geschichten stecken. „Jeder, der etwas auf Etsy kauft, stellt eine direkte Verbindung zu der Person hinter dem Produkt her“, sagt Dickerson. Damit fördert Etsy nicht nur regionale Märkte, sondern will auch eine ökonomische Umstrukturierung anregen. Dafür wurde die Firma als B Corporation zertifiziert. B Corporations (B wie Benefit) sind Geschäftsmodelle, die die Macht der Firmen nutzen, um soziale und ökologische Probleme zu lösen – und der Wirtschaft ein menschliches Gesicht geben. Aleksandra Lebedowicz

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