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Wirtschaft: Angst im Kurvenreich

In Asien ist auch der Dienstag ein schwarzer gewesen, in Europa dagegen ging alles glimpflich aus. Und dann schaute die Welt auf New York – was würde an der Wall Street passieren? Krisengeschichten aus China und Amerika

Es hatte Gerüchte gegeben. Die Citigroup – Firmensitz New York, weltweit 330 000 Angestellte und 200 Millionen Kundenkonten, 82 Milliarden US-Dollar Einnahmen im Jahr 2007, nach Abzug aller Kosten und Verluste 3,6 Milliarden US-Dollar Gewinn, insgesamt verwaltetes Vermögen: 2,4 Billionen US-Dollar –, der größte Finanzdienstleister also, das größte Unternehmen der Welt, stehe vor der Pleite. Es wäre eine gigantische Pleite, mit gigantischen Folgen, und dennoch: Die Unruhe und Angst, die diesen Dienstagmorgen die New Yorker Wall Street beherrschen, haben vor allem einen anderen, noch viel schwerwiegenderen Grund: die rasante Geldvernichtung, den weltweiten Aktienkursverfall, der seit Freitag das Geschehen an den Börsen der Welt bestimmt und von dem niemand weiß, wie schnell er weitergehen und an welchem Punkt er zum Stillstand kommen wird. Die Citigroup-Gerüchte sind da nur so eine Art Zugabe.

Und dann, kurz vor Börsenbeginn, kommt die Nachricht von der Leitzinssenkung. Sie erreicht viele der Angestellten des New Yorker Finanzdistrikts unter einem heiteren Himmel, auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Weg von midtown Manhattan, Brooklyn und New Jersey zu ihren Büros in downtown. Mobiltelefone klingeln in den U-Bahnen, Taschencomputer vibrieren in Taxis, in Limousinen. Kaum glaubliche 0,75 Prozentpunkte runter, auf 3,5 Prozent. Noch nie dagewesen. Verabredet von den US-Notenbankchefs während eines Krisentelefonats am Montagabend, acht von ihnen votierten dafür, nur einer dagegen. Geld – also Bankkredite – wird in den Vereinigten Staaten nun deutlich billiger, Investitionen werden es damit auch, die damit verbundenen Risiken sinken, das ist gut für die Konjunktur.

Auch Harlan Bertram hat schon von der Zinssenkung durch die Notenbank gehört, als er aus der U-Bahn aussteigt und in Richtung des Büros seiner Handelsfirma an der Wall Street hechtet. „Das hätte Notenbankchef Bernanke niemals vor Marktbeginn gemacht, wenn er nicht richtig Angst hätte“, sagt Bertram. Der edel gekleidete Broker nimmt die Situation jedoch sportlich: „Das wird richtig interessant heute“, sagt er mit einem breiten Grinsen.

Noch ein paar Minuten also, und man wird sehen, ob die Zinssenkung Einfluss hat auf die Kurse an der Wall Street. Oder ob – nach einem langen New Yorker Wochenende, der Montag war ein Feiertag – nicht doch das durchschlägt, was am Wochenbeginn im Rest der Welt passierte, und am Dienstag auch wieder in Asien.

In China zum Beispiel.

Wenn der Pekinger Bankmanager Han Wei in den vergangenen Monaten abends zum Volleyballspielen ging, gab es meist nur ein Thema: die Börse. Freunde und Mitspieler fragten ihn nach den neusten Aktientipps, man tauschte Berichte aus dem Wirtschaftsteil der Zeitung aus und diskutierte über Gewinnerwartungen. „Alle meine Bekannten haben ihr Geld in Aktien gesteckt, ich auch“, sagt Han. Am Dienstag aber ist es in der Sporthalle in der Nähe des Beihai-Parks ungewöhnlich still. „Der Aktiencrash hat uns voll erwischt“, sagt Han.

Die Hälfte seines Depotwertes habe er eingebüßt, erklärt der Bankmanager. Andere seiner Freunde seien noch schlimmer dran. Wie ein Hase vor einer Schlange habe er die vergangenen Tage auf dem Bildschirm den Absturz der chinesischen Börsen verfolgt. Am Montag ein Minus von fünf Prozent, am Dienstag sieben Prozent. Ein Vermögen von 6000 Milliarden Yuan – das sind rund 600 Milliarden Euro – löste sich nach Berechnung der Nachrichtenagentur Reuters an der Schanghaier und der Shenzhen-Börse in Luft auf. „Ich hätte nie gedacht, dass das so schnell geht“, sagt Han.

Vielen chinesischen Anlegern ging es offenbar ähnlich. Vergangene Woche hatte die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua eine Statistik verbreitet, derzufolge zehn Prozent aller Börsenanleger nie über mögliche Verluste nachgedacht hätten. Den Investoren, zumeist Kleinanlegern, würde das „grundlegende Wissen über Wertpapiere“ fehlen, erklärte der Präsident des Wertpapierverbandes, Huang Xiangping. „Die meisten interessieren sich nur fürs kurzfristige Spekulieren.“

Tatsächlich schien es für Chinas Aktienkurse lange Zeit nur eine Richtung zu geben: steil bergauf. Staatsbanken wie die ICBC oder die Bank of China, von der Regierung vor wenigen Jahren noch mit Notfonds vor dem Konkurs gerettet, waren plötzlich heiß gefragte Anlagen, auch für ausländische Investoren. Angefeuert von Chinas Boom stiegen die Kurse auf immer neue Rekordhöhen. Fünf der weltweit zehn wertvollsten Unternehmen – gemessen am Börsenwert – stammten zuletzt aus China. Ob Petrochina, früher maroder Staatsbetrieb und heute die auf dem Papier wertvollste Firma der Welt, wirklich so gut ist wie die westlichen Großkonzerne, fragte niemand.

Die Party an Chinas Börsen scheint vorbei zu sein. Um 17 Prozent sank der Schanghaier Index in den vergangenen fünf Tagen. Hongkongs Aktienmarkt, wo viele chinesische Firmen notiert sind, sackt allein am Dienstag um 8,7 Prozent ab.

Die Bank of China, das drittgrößte Finanzunternehmen der Volksrepublik, hat der Strudel der Kreditkrise schon erfasst. Zeitungsberichten zufolge könnten die Verluste aus Risikokrediten den Jahresgewinn aufzehren und sogar für Verluste sorgen. Noch größer ist aus Sicht vieler chinesischer Anleger aber das Risiko einer US-Rezession. Die Volksrepublik verkauft einen Großteil ihrer Exporte in die USA.

Weil für viele Chinesen die Börse wie ein Spielkasino war, haben immer mehr Menschen ihr Geld in Aktien gesteckt. Allein im vergangenen Jahr wurden 32 Millionen neue Depots eröffnet. Die Zahl der Aktieninvestoren stieg auf 136 Millionen – das heißt: Jeder zehnte Chinesen besitzt Aktien. Zwei Drittel davon seien Kleinanleger mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 5000 Yuan – 500 Euro – berichtet Xinhua. „Manche meiner Bekannten haben ihre Wohnungen beliehen, um an der Börse zu spekulieren“, erzählt Bankmanager Han.

Die in Hongkong erscheinende „South China Morning Post“ erinnerte ihre Leser an die Asienkrise 1997 und 1998: „Die Schmerzen werden vermutlich jeden treffen, aber diesmal hoffentlich nicht so stark.“

Schmerzen ja, aber nicht allzu große, das hoffen auch viele in Manhattan. Der indischstämmige Finanzier Jay Brenner jedenfalls verströmt eine gewisse Gelassenheit, während er ungehetzt in Richtung Börseneingang schreitet. „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Märkte sich erholen“, sagt er. „Es wird eine Zeit dauern, aber unser Finanzmarkt ist sehr widerstandsfähig.“ Für die Zinssenkung jedoch hat er nur ein Schulterzucken übrig: „Das ist viel zu wenig, viel zu spät. Bernanke hinkt hinterher. Er hätte uns das schon vor Wochen geben müssen.“ Was den heutigen Tag an der Börse angeht, hofft Brenner eher auf Präsident Bush als auf Bernanke. „Er muss heute Vormittag sprechen. Er muss die Anleger beruhigen und bei seinem Stimulus-Paket deutlich drauflegen.“

Und dann sagt Brenner noch einmal, dass er ganz ruhig in diesen Handelstag gehe. „Ich bin zuversichtlich. Ich glaube an unser System.“

Die Menschen, die an Brenner vorbei zu ihrem Arbeitsplatz hasten, haben sich in warme Schals gewickelt und die Kragen hochgezogen. Ihre Mienen sind besorgt, die Stimmung ist angespannt. Nervosität liegt in der Luft an der berühmten „Corner“, der Ecke Wall und Broad, wo sich schon so oft die Geschicke der Weltwirtschaft entschieden haben. Nervosität in allen Schattierungen, eine milde, vom Glauben an die Stärke des Finanzmarkts überdeckte wie bei Jay Brenner, und eine offen zutage tretende wie bei Shaun Barrow zum Beispiel. Der Mann ist pessimistisch. Er – großgewachsen, Afro-Amerikaner – arbeitet bei der Börsenaufsicht. Er sagt, er erwarte den „schlimmsten Tag aller Zeiten hier“.

Irgendwo zwischen Brenners und Barrows Stimmungslage liegt die von Elliott Burns. Er ist Händler, er sagt: „Die Zinssenkung reicht nicht aus, um die Abwärtsspirale abzufangen“, während er am Eingang zur Börse den Sicherheitsbeamten seine Ausweise vorzeigt. Burns glaubt, wie viele andere hier, dass der gegenwärtige Abschwung ein langfristiger und nachhaltiger ist und sich die Märkte so schnell nicht erholen werden. „Das dauert Monate, nicht Tage.“ Seine Strategie für heute: „Erst einmal verkaufen.“

Nervosität bei den Finanzleuten von Manhattan, aber auch Kühle und – was die Zukunft angeht – Klarheit. So ist auch das Wetter an diesem Dienstag. Die Temperaturen liegen bei null, es weht ein leichter Wind, die Sicht ist gut. Die Meteorologen sagen, dass sie heute 16 Kilometer beträgt.

Harald Maass[Peking], Sebastian Moll[New York]

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