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Wirtschaft: Annelise Pietà

Geb. 1917

Sie hatte Grund zu trauern. Aber viel zu wenig Zeit. Erst als erwachsener Mann fand der Sohn Gewissheit über den Verbleib seines Vaters.

Am 14. Oktober 1945 wurde Alexander Pietà von der sowjetischen Geheimpolizei abgeholt. Die Russen selbst hatten ihn zum ersten Bürgermeister des Ortes Kolpin bei Storkow ernannt, weil er politisch unbelastet schien. Zwar war er in der ersten Euphorie des Aufbruchs 1933 NSDAP-Mitglied geworden, doch wurde er von da an nur noch als „beitragsschuldige Karteileiche“ geführt. Und natürlich musste er, als gelernter Grafiker und Pressezeichner, den beruflichen Kniefall vor dem Regime machen, aber er war, nach Auskunft seiner Freunde, kein Nazi. Denunziert wurde er bei der sowjetischen Geheimpolizei, weil er wider alliierte Anordnung eine Waffe bei sich zu Hause aufbewahrte, die ihm ein Dorfbewohner Wochen zuvor als Fundstück ausgehändigt hatte. Denunziert wurde er, weil ihn manche im Dorf dafür hassten, dass er Befehlsempfänger der Russen war.

In einer letzten heimlichen Mitteilung ihres Mannes aus dem Gefängnis erfuhr Annelise Pietà, dass ihn ein Militärgericht zum Tode verurteilt hatte. Bis 1998 blieb sie ohne jede offizielle Nachricht über sein weiteres Schicksal. Die Recherche des Sohns ergab: Das Todesurteil war in eine Lagerstrafe abgemildert worden. Bei der Überstellung im März 1946 wurde Alexander Pietà bei einem Fluchtversuch erschossen.

Annelise kehrte mit ihren Kindern zurück nach Berlin, das sie im Krieg der Bomben wegen verlassen hatte.

Ihr Vater war Ende 45 gestorben, noch im März hatte man den fast Neunzigjährigen zum Volkssturm einziehen wollen.

Das Elternhaus war zerstört.

Ihre Schwester Ilse war in ein russisches Lager deportiert worden. Sie hatte sich vor dem Krieg in einen Franzosen verliebt, gelangte als Dolmetscherin der Wehrmacht wieder in seine Nähe, wurde schwanger, schlug sich durch nach Berlin, wo sie von den Russen der Gestapomitarbeit verdächtigt wurde. Sie starb in Sibirien. Ihr Liebhaber, als Diplomat nach Berlin zurückgekehrt, verleugnete das gemeinsame Kind.

Pietà – die Trauernde. Dazu blieb Annelise, der Mutter zweier Söhne, keine Zeit. Freunde suchten einen neuen Mann für sie. Vielleicht aus Einsamkeit, vielleicht aus schlechtem Gewissen ihren Kindern gegenüber, versuchte sie es mit ihm. Er schlug sie, er schlug die Kinder, und nach wenigen Jahren trennte sie sich wieder von ihm – trotz seiner sicheren Stellung. Hugo Peter Wolf, ehemaliges SS-Mitglied, war als Beamter bis 1972 zuständig für die Anerkennung von NS-Opfern.

Annelise Pietà besann sich auf ihre eigenen Talente. Als Malerin und Musterzeichnerin hatte sie vor dem Krieg gearbeitet, immer gefördert von ihrem Vater.

Fritz Leonhardi war über zwanzig Jahre älter als seine Frau Hedwig. Er besaß eine kleine Fabrik für Luxuspapiere in der Köpenicker Straße, die er vor Kriegsbeginn verkaufen musste, weil ihn die Schuldenlast der kaiserlichen Kriegsanleihen noch immer drückte. Ein gemäßigter Monarchist, und durchaus kein strenger, vielmehr ein überaus toleranter Vater, der seine Töchter über alles liebte.

Ilse besuchte die politische Hochschule und wurde später Journalistin; Annelise studierte an der Kunstgewerbeschule Textil und Mode, belegte zusätzlich Kurse im Aktzeichnen. Sie wollte eigenes Geld verdienen, fand schnell eine Anstellung als Designerin für Stoffmalerei.

Die Stickereifirma, in der sie vor dem Krieg begonnen hatte, eröffnete 1945 unter alter Leitung. Sie arbeitete erneut als Musterzeichnerin, illustrierte, gründete einen eigenen Pressedienst „Mode in Wort und Bild“. Aber die Berliner Modeindustrie lag brach nach dem Bau der Mauer.

1968 bekam sie ein lukratives Angebot einer Münchner Modefirma. Von da an hatte sie ein sicheres Auskommen für sich und ihre Söhne. Berlin vermisste sie nicht, sie vermisste die Berliner, denn die Münchner waren ihr zu zahm. Und sie vermisste die Ostsee, auch wenn sie viel auf Reisen ging, blieb diese Erinnerung an die glücklichen Familienausflüge der Vorkriegszeit die schönste und zugleich schmerzlichste. Vielleicht wollte sie deshalb im Meer bestattet werden. „Wenn meine Stimme an Land stirbt, bringt sie hinunter ans Meer und lasst sie mir am Strande…“

Dass sie keine Liebe mehr fand, darüber klagte sie nicht. Aber als sie nach ihrer Pensionierung wieder die Muße hatte, kehrte sie zurück zur Malerei, schulte nach einem langen Berufsleben an der Kunstakademie erneut ihren künstlerischen Blick und schuf in den zehn Jahren, die ihr dafür blieben, über 100 Gemälde; Skizzen und Studien nicht gezählt. Und sie kehrte zurück nach Berlin, wo sie sterben wollte.

Ihr Selbstporträt zeigt ein Gesicht, ernst im Ausdruck aber die Züge nicht verhärmt. Dafür Spuren melancholischer Heiterkeit: „Das Leben“, da war sie sich mit ihrem Fahrlehrer einig, „ist nun mal eins der schwersten.“

Ihr letztes Bild: Ein Sonnenuntergang. Kein blutroter Ball von theatralisch gestimmten Malerhänden ins brennende Meer geworfen. Eine Sonne vielmehr, sehr hell, aber sehr fern, die ewig am Himmel steht und langsam erkaltet.

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