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Wirtschaft: Arbeiter und Angestellte zweifeln mehr und mehr an der traditionellen Rolle der Gewerkschaften

Als noch der Kommunismus den Osten Deutschlands beherrschte, war Maik Ruess Gewerkschaftsmitglied. Heute arbeitet der 35-Jährige für Infineon Technologies AG, einem Hersteller von Computerchips, der Siemens gehört.

Als noch der Kommunismus den Osten Deutschlands beherrschte, war Maik Ruess Gewerkschaftsmitglied. Heute arbeitet der 35-Jährige für Infineon Technologies AG, einem Hersteller von Computerchips, der Siemens gehört. Sein Arbeitspensum ist zermürbend, zudem verdient er weniger als die Infineon-Arbeiter im Westen. Trotzdem will er keiner Gewerkschaft beitreten.

Auf der anderen Seite des einstigen eisernen Vorhangs verdient Bernhard Schaetzler genug bei Infineon, um sich eine Eigentumswohnung und einen ausgiebigen Urlaub im Jahr leisten zu können. Im Regensburger Werk gibt es mehr Mitglieder in der Gewerkschaft als im Dresdener Pendant. Allerdings zählt Schaetzler nicht dazu. "In der Vergangenheit haben die Gewerkschaften viel erreicht", sagt der 37-Jährige. "Aber ich wüsste nicht, was sie heute noch für mich bewirken könnten."

Viele Jahre haben die deutschen Gewerkschaften ihre Schlagkraft bewahren können, während ihre amerikanischen und englischen Brüder immer schwächer wurden. In der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg haben die muskulösen Arbeitervertretungen ihren Leuten viel gesichert. Der Wohlstand in Deutschland wurde gerechter verteilt, die Arbeitszeit verkürzt, die Urlaubszeit verlängert, die Lohntüte dicker. In den 70er und 80er Jahren konnten die US-Arbeiter über die Lohnerhöhungen, die die deutschen Gewerkschaften durchsetzten, vor Neid erblassen. Aber eben diese hohen Löhne und die unbeugsamen Arbeitsgesetze sollen nun Schuld an Deutschlands hoher Arbeitslosenquote und dem langsamen Wachstum sein.

Die Gewerkschaften stehen unter enormem Druck, jetzt nachgeben zu müssen. So sehr sie ein Meilenstein in der Arbeitergeschichte sind, ist ihr Niedergang nun unvermeidlich - wenn die Entwicklung in Deutschland der in der ganzen industrialisierten Welt folgt. Ihr Einfluss schwindet. Schuld daran ist ihr Unvermögen, mit dem globalen Wettbewerb, der neuen Technik und den freien Märkten umzugehen.

Europas größte Wirtschaft wird davon jedoch eher profitieren. Eine geschwächte Gewerkschaft könnte den Markt für Investoren aus dem Aus- und Inland attraktiver werden lassen. Momentan ziehen selbst die Niederlande, bei einer Größe von einem Fünftel Deutschlands, mehr ausländische Direktinvestitionen an. Amerikanische Unternehmen nennen die deutschen Arbeitsgesetze oft als Grund gegen die Entscheidung, sich in Deutschland anzusiedeln.

Noch aber haben die deutschen Gewerkschaften Einfluss - ganz im Gegensatz zu den amerikanischen. Beispiel Philipp Holzmann: In der vorletzten Woche haben massive Proteste der IG Bau die Bundesregierung unter Druck gesetzt, sich an der Sanierung des maroden Bauriesen aktiv zu beteiligen. Gleichwohl geht die Macht der Gewerkschaften stetig zurück.

Seit 1991 haben deutsche Arbeitnehmerorganisationen haben fast 3,5 Millionen Mitglieder verloren. Damit ist nur noch jeder vierte Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft organisiert. Das alte System, in dem Tarifverträge zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden ausgehandelt werden, steht kurz vor dem Zerfall. Besonders in Ostdeutschland treten Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden aus. Dort schließen mehr Arbeitgeber ihre Vereinbarungen mit kleinen Verbänden oder mit den Betriebsräten ab. Damit setzen sie die Gewerkschaften im Westen unter Druck, ihnen entgegen zu kommen.

Mit der Mitgliederzahl schwindet ihr politischer Einfluss. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist nicht der Verbündete der Gewerkschaften, wie sie sich durch den Regierungswechsel erhofft hatten. Schröder machte seinen Standpunkt deutlich, als er im Herbst den Gewerkschaftsmitgliedern in der Hochburg Nordrhein-Westfalen sagte: "Ihr repräsentiert nicht das Gemeinwohl. Ihr repräsentiert lediglich die eigenen Interessen." Dagegen beschwert sich die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Ursula Engelen-Kefer. Die Bundesregierung nehme in vielen Fällen eine So-oder-gar-nicht-Position "uns gegenüber" ein.

Am meisten verlieren die Gewerkschaften an Mitgliedern und Prestige auf der Unternehmensebene. Dort hat sich uneingeschränkte Akzeptanz in Skepsis und Ablehnung gewandelt. Maik Ruess hat in Dresden beide Seiten kennengelernt - und für ihn bietet eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft keinen Vorteil mehr.

Zu DDR-Zeiten war Ruess Kassenwart der Einheitsgewerkschaft. Als die Mauer fiel, verloren ein Drittel der Arbeiter in seiner staatseigenen Firma ihren Arbeitsplatz. Als Ruess später bei Infineon neue Arbeit fand, zog er in Erwägung, Mitglied der IG Metall zu werden. Denn er dachte sich, dass es in einer großen Firma von Nutzen sein könnte, wenn die Rechte der Arbeiter verteidigt werden. Die Forderungen der Gewerkschaft nach mehr Lohn bei Arbeitszeitverkürzung schien ihm jedoch wirklichkeitsfremd. Wo sollte das Geld schließlich herkommen?

Die IG Metall hat in der Vergangenheit viel erreicht. Die Tarifverträge, die Branchen vom Stahlarbeiter bis zum Chiphersteller einschließen, verbieten betriebseigene Vereinbarungen. "Die Gewerkschaften legen für jeden die selbe Messlatte an", sagt der Infineon-Vorstandschef Ulrich Schumacher. "Sie müssten mehr Flexibilität und Differenzierung zulassen", sagt er. "Aber das würde ihrer traditionellen Ideologie widersprechen, die allen gleiches Recht einräumt."

Infineon schlug der örtlichen IG Metall vor, die Löhne in drei Teile aufzugliedern: einen Grundlohn, der für alle Arbeiter gleich ist, einen Teil, der sich nach der individuellen Leistung richtet, und einen dritten Teil, der sich an den Leistungen des Unternehmens orientiert. Die IG Metall lehnte mit der Begründung ab, man könne die Arbeiter nicht für etwas bestrafen, auf das sie keinen Einfluss hätten. Infineon strebt den neuen Lohntarif trotzdem an. Die Firma garantiert den Arbeitern in Dresden einen jährlichen Lohnanstieg von zwei Prozent, verglichen mit den 3,2 Prozent im westlichen Werk. Nach Meinung der Gewerkschaft nutzt Infineon damit die hohe Arbeitslosenrate im Osten aus.

"Die Ziele und Methoden der Gewerkschaften widersprechen den Zielsetzungen unseres Unternehmens", sagt der Regensburger Mitarbeiter Schaetzler. "Sie kleben an ihren Regeln und Forderungen, unabhängig davon, mit welcher Branche sie es zu tun haben." Schaetzler denkt, dass Infineon das flexiblere Lohnsystem durchsetzen wird - mit oder ohne Segen der IG Metall. "Aber zu einem wochenlangen Streik wird es kaum kommen", mutmaßt er, "geschweige denn, dass die Arbeiter in Scharen zu den Gewerkschaften strömen."Übersetzt und redigiert von Birte Heitmann.

Cecilie Rohwedder

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