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Wirtschaft: Arbeitnehmer werden seltener krank

Trotz hundertprozentiger Lohnfortzahlung sparen Unternehmen Milliarden / Krankenstand fiel um 16 ProzentVON ALFONS FRESEWirtschaftsminister Günter Rexrodt überraschte die Öffentlichkeit: Die Wirtschaft, so der Minister kürzlich, habe durch das neue Entgeltfortzahlungsgesetzes "einen zweistelligen Milliardenbetrag gespart".Wie das?

Trotz hundertprozentiger Lohnfortzahlung sparen Unternehmen Milliarden / Krankenstand fiel um 16 ProzentVON ALFONS FRESE

Wirtschaftsminister Günter Rexrodt überraschte die Öffentlichkeit: Die Wirtschaft, so der Minister kürzlich, habe durch das neue Entgeltfortzahlungsgesetzes "einen zweistelligen Milliardenbetrag gespart".Wie das? Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hatte in seiner jüngsten Analyse noch gemeint, der Streit um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sei "viel Aufregung um nichts" gewesen. Im heißen Verhandlungs-Frühling des Jahres 1997 erstritten die Gewerkschaften für fast zehn Millionen Beschäftigte im Krankheitsfall Lohn- und Gehaltsfortzahlungen von 100 Prozent.Das hatte sich die Bundesregierung anders vorgestellt: Zum 1.Oktober 1996 war die Lohnfortzahlung von 100 Prozent auf 80 Prozent gekürzt worden.Doch in fast allen größen Wirtschaftsbereichen werden weiterhin 100 Prozent gezahlt.Wie also kommt Rexrodt auf seinen "zweistelligen Milliardenbetrag"? Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BdA) kann es vorrechnen.Zwar "kann niemand etwas definitiv sagen", so BdA-Mitarbeiter Klaus Stiefermann.Aber es gebe Anhaltspunkte für deutliche Einsparungen.Zum Beispiel die Statistik des Bundesverbandes der betrieblichen Krankenkassen: Danach sind die Krankenstände im ersten Halbjahr 1997 um beachtliche 16 Prozent gesunken."Das macht finanziell einiges aus", sagt Stiefermann: Bei Krankenkosten von zuletzt gut 60 Mrd.DM pro Jahr - das beinhaltet direkte Entgeltfortzahlung, Sozialbeiträge und den Arbeitgeberanteil am Krankengeld der Krankenkassen - ergibt das eine Einsparung von knapp zehn Mrd.DM.Und schon ist man bei Rexrodts zweistelligem Milliardenbetrag. Aber warum sinken die Krankenstände, obgleich weiterhin 100 Prozent gezahlt werden? "Die 100 Prozent sind heute anders definiert", sagt Stiefermann.Vor allem deshalb, weil die Berechnungsgrundlage "dünner" geworden ist.In vielen Branchen wird die Entgeltfortzahlung nun ohne Mehrarbeitszuschläge und zumeist auch ohne Überstunden-Vergütung berechnet.Ferner mußten die Gewerkschaften - gleichsam als Kompensation für die 100 Prozent - Kürzungen beim Weihnachtsgeld hinnehmen.Auch gingen inzwischen viele Betriebe das Thema Fehlzeiten "offensiv" an, beispielsweise mit Mitarbeitergesprächen, in denen nach betrieblichen Gründen für Krankheit geforscht wird.Den Berliner Verkehrsbetrieben gelang es so etwa in den letzten Jahren, den Krankenstand von 13,4 auf nur noch 8,6 Prozent zur drücken.Berücksichtige man außerdem noch die indirekten Effekte eines niedrigen Krankenstandes - auf betriebliche Abläufe, Kosten von Ersatzpersonal, Gefahren für pünktliche Auftragsbearbeitung, verkürzte Maschinenlaufzeiten - so kommt Stiefermann auf einen zweistelligen Milliardenbetrag, der "in der Tendenz eher bei 20 als bei zehn liegt". Dabei hat er noch gar nicht die Summe eingerechnet, die Betriebe sparen, die nur noch 80 Prozent zahlen."Keiner weiß, wo 80 Prozent gezahlt wird", so Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB.Aber es dürften einige Millionen Arbeitnehmer betroffen sein.Denn tariflich gesichert sind die 100 Prozent nur für rund 100 Wirtschaftsbereiche mit rund 15 Millionen Beschäftigten - inklusive öffentlicher Dienst.Insgesamt aber gibt es in Deutschland rund 36 Millionen Erwerbstätige.Man darf also vermuten, das in vielen nicht-tarifgebunden Unternehmen, zumal in kleineren Betrieben wie etwa im Handwerk, die gesetzliche Entgeltfortzahlung von 80 Prozent umgesetzt wird. Dieser Mindestsatz wurde lediglich in drei Fällen in Tarifverträge übernommen: In der hessischen und der niedersächsischen säge- und holzverarbeitenden Industrie sowie im Bäckerhandwerk Rheinland und Westfalen-Lippe.Eine abgestufte Regelung vereinbarten die Tarifparteien in der Bauindustrie: Für die ersten drei Krankheitstage werden 80 Prozent, danach 100 Prozent gezahlt.Ferner wurde laut IW-Statistik in 13 Tarifverträgen festgelegt, bestimmte Beschäftigungsgruppen vom Anspruch auf Entgeltfortzahlung auszuschließen.Darunter fallen beispielsweise oft neu eingestellte Arbeitnehmer, die erst nach vier- bis sechs Wochen Anspruch auf Entgeltfortzahlung haben.Spezielle Regelungen gibt es zudem bei Saisonkräften: In der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie beispielsweise gibt es erst in der zweiten Saison 100 Prozent bei Krankheit. Immerhin, so das arbeitgebernahe IW mit leichter Genugtuung, sehen "weit mehr als die Hälfte der Tarif-Deals (81 von 140 Vereinbarungen) zum Teil erhebliche Ausgleichs-Leistungen durch die Beschäftigten vor".Trotzdem sitzt der Frust über die "Vollkasko-Absicherung im Krankheitsfall" tief."Ausgerechnet der Bund" habe den ersten Schritt in Richtung 100 Prozent getan.Denn im öffentlichen Dienst konnten sich die Vertreter der Arbeitgeberseite "nicht gegen den geballten Widerstand der Gewerkschaften durchsetzen - und schufen somit einen für die Privatwirtschaft verhängnisvollen Präzedenzfall." In der Tat hatten Bundesregierung und Arbeitgeber den Widerstand der Beschäftigten unterschätzt.Nach nunmehr einjähriger Erfahrung können dennoch alle Beteiligten einigermaßen zufrieden sein: Eine flächendeckende Kürzung auf 80 Prozent hat es nicht gegeben - und trotzdem sparen die Unternehmen Milliarden.

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