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Athen: 300 Griechen gegen die Troika

Athens "Empörte Bürger" versammeln sich allabendlich auf dem Syntagmaplatz. Immer mehr Menschen strömen zusammen. Wogegen sie sind, ist klar – wofür, weniger.

Nikolaos Kambarakis weiß, wie man protestiert. Er ist 84, stammt von der Insel Kreta und war bei allen großen Streiks in Griechenland dabei. „Bei den Protestmärschen bin ich immer mitgegangen“, erzählt er stolz und nimmt einen Zug aus seiner Zigarette. Auf die Krücke seines Regenschirms gestützt, sitzt er am Athener Syntagmaplatz. „Gegen die Nazi-Besatzer im Zweiten Weltkrieg habe ich gekämpft und gegen die Obristenjunta“, sagt Kambarakis, „und jetzt kämpfe ich gegen die Troika.“

Troika, so nennen sie in Griechenland die Vertreter der EU, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB), die gerade in Athen sind, um die Umsetzung des Spar- und Reformprogramms zu prüfen, zu dem sich die Griechen vor einem Jahr im Gegenzug für die 110-Milliarden-Euro-Rettungskredite verpflichten mussten.

Jemand hat Kambarakis einen Schemel gebracht. „Die Knochen wollen nicht mehr, aber ich möchte wenigstens dabei sein“, sagt der alte Mann mit dem silbergrauen Schnauzbart. Durch seine große Brille beobachtet er das geschäftige Treiben um ihn herum: Da sitzt eine Gruppe junger Leute mit aufgeklappten Laptops um einen Campingtisch herum. Angeregt wird diskutiert. Weiter drüben installieren sie eine Lautsprecheranlage in den Bäumen. Jemand wirft einen kleinen Generator an. Die Vorbereitungen für die Kundgebung laufen auf Hochtouren. Seit einer Woche versammeln sich Abend für Abend tausende Menschen auf dem Athener Syntagmaplatz. Sie nennen sich „Empörte Bürger“.

Auch Maria ist empört. Unter einem gelben Sonnenschirm sammelt die 26-jährige Kunstmalerin Unterschriften. Etwa 50 000 hat sie schon beisammen, eine halbe Million sollen es werden. „300 Griechen“ heißt die Initiative, die sie vor einer Woche mit zwei Freunden gestartet hat. „Inzwischen machen hunderte mit“, freut sich Maria. Der Name „300 Griechen“ ist eine Anspielung auf das Jahr 480 vor Christus, als sich 300 Spartaner unter Führung ihres Königs Leonidas an den Thermopylen den persischen Eroberern entgegenstellten. „Damals waren es die Perser, heute sind es die europäischen Gläubiger und der IWF, die es zurückzuschlagen gilt“, erklärt Maria. Sie und ihre Mitstreiter sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren: Weg mit dem Sparprogramm, raus mit dem IWF, lautet das Ziel. Auch für das Schuldenproblem haben sie eine Lösung: Die Staatsschulden seien „illegal“, man werde sie deshalb einfach nicht zurückzahlen.

Seit dem vergangenen Mittwoch demonstrieren allabendlich zehntausende Griechen in Athen und anderen Städten gegen – ja, eigentlich gegen alles. Die Troika und ihr „Spardiktat“, aber auch gegen Korruption und Vetternwirtschaft, gegen Politiker und Parteien, gegen „das politische System insgesamt“, erklärt der 20-jährige Thanassis. „Das muss weg.“ Und was kommt stattdessen? „Daran arbeiten wir noch.“ Der Student sitzt mit vier anderen jungen Leuten an einem langen Tisch. Hier werden Arbeitsgruppen und Diskussionszirkel organisiert. Thanassis ist vom ersten Tag an dabei. Wie die meisten hat er von den Versammlungen über Facebook und Twitter erfahren. Viele verbringen inzwischen auch die Nächte hier, in den Zelten, die sie auf den Grünflächen aufgeschlagen haben. Binnen weniger Tage ist aus dem Nichts eine erstaunliche Organisation herangewachsen – ohne dass es einen Organisator gäbe. Gewerkschaftssymbole und Parteifahnen sind verpönt. Nur die griechische Nationalflagge wird geduldet.

Die blau-weiße Griechenfahne hat auch Angeliki Mousouri dabei. Die 64-Jährige wohnt im Nobelviertel Kolonaki oberhalb des Syntagmaplatzes, und „dass ich jemals zu einer Demonstration gehen würde, hätte ich mir nie vorgestellt“, sagt sie. Mousouri sieht aus wie eine Dame der „besseren Gesellschaft“: schickes Kleid, elegante Schuhe, dezenter Goldschmuck. „Wir sind in einer ähnlichen Situation wie 1974 nach dem Sturz der Junta, als Griechenland am Abgrund eines Krieges mit der Türkei stand“, erklärt sie. „Jetzt steht unser Land wieder vor dem Zusammenbruch – und wir müssen es retten.“ Aber wie? „Keine Ahnung“, sagt Frau Mousouri.

Lösbar ist dagegen die Aufgabe, vor der, ein paar Meter weiter, Georgia Solomou steht. Ein Sechsjähriger hat sich beim Sturz auf einer der Marmortreppen das Knie aufgeschlagen. Georgia desinfiziert den Kratzer und klebt ein Pflaster drauf. Die 45-Jährige ist OP-Schwester, aber heute macht sie Dienst in der provisorischen Sanitätsstation auf dem Syntagmaplatz: ein Feldbett unter einer Plane, die zwischen den Bäumen aufgespannt ist, daneben ein kleiner Tisch mit allem, was man für die Erste Hilfe braucht. Georgia ist eine von 20 Ärzten, Sanitätern und Pflegern, die hier rund um die Uhr Dienst tun. „Meist behandeln wir kleine Blessuren, aber es gibt auch Schwächeanfälle und Kreislaufprobleme“, sagt sie. Auch die Ärzte und Pfleger haben sich über Facebook gefunden. Für die Nachtruhe gibt es ein kleines Zelt. „Wir sind hier, weil es um die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes geht, um unsere Freiheit“, sagt sie. Und fügt nach einer kleinen Pause hinzu: „Und um unsere Würde.“ Ein Wort, das man hier häufig hört. Viele Griechen fühlen sich durch das Spardiktat der Troika um ihre Würde gebracht.

Immer mehr Menschen strömen zusammen. Viele haben Töpfe und Kochlöffel mitgebracht, sie trommeln. Andere pusten unentwegt in Trillerpfeifen. „Verräter, Diebe“, rufen manche und recken ihre Fäuste der Vouli entgegen, dem Parlamentsgebäude am Ostende des Platzes. Es bilden sich Diskussionszirkel, junge Menschen und Ältere sitzen im Kreis auf dem Boden und debattieren. Man ist sich schnell einig, was man nicht will: Das politische System Griechenlands ist bankrott, die Parteien haben abgewirtschaftet.

Wie tief das Vertrauen der Griechen in die Politik erschüttert ist, zeigt auch eine am Sonntag veröffentlichte Meinungsumfrage: Sieben von zehn Befragten lehnen sowohl die sozialistische Regierung als auch die konservative Opposition ab. Aber was soll an die Stelle der bestehenden Parteien und Politiker treten? Und wie kann der drohende Staatsbankrott abgewendet werden? Auf diese Fragen bekommt man auf dem Syntagmaplatz keine Antwort.

Die Malerin Maria hat inzwischen ein paar tausend weitere Unterschriften für ihr Volksbegehren gesammelt – „für ein freies Griechenland“, erklärt die 26-Jährige strahlend, „wie damals die Spartaner bei den Thermopylen“. 24 Stunden am Tag ist der Stand besetzt – „bis zum Endsieg“, wie es auf einem Flugblatt heißt. Der könnte allerdings auf sich warten lassen. Denn bekanntlich verloren die Griechen die Schlacht an den Thermopylen – Leonidas und alle seine 300 Kämpfer kamen ums Leben, das Heer des Perserkönigs Xerxes konnte ungehindert bis nach Athen marschieren. Erst im Sommer darauf gelang es den Griechen, das persische Heer bei Plataiai in Böotien zu besiegen und die Eroberer zu vertreiben.

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