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Wirtschaft: Auf Messers Schneide

Einige Schüler neigen zu Gewalt – und landen in der Kriminalstatistik. Wie Pädagogen lernen, das zu verhindern.

Das Mädchen war eine schwierige Schülerin. Sie konnte ziemlich gut reden und war sehr intelligent – nur setzte sie ihre Talente oft an der falschen Stelle ein. Sie legte sich mit ihren Mitschülern an, provozierte Lehrer und Eltern. Stefan Fischer sagt: „Sie hatte Schwierigkeiten, nicht laut zu werden und nicht zu beleidigen.“ Um ihr zu helfen, nutzte Fischer ein pädagogisches Konzept, das er gerade gelernt hatte. Wichtig dabei ist, dem Gegenüber zu vermitteln: Du bist mir wichtig, ich bin in jedem Fall für dich da, aber dein Verhalten finde ich nicht gut. So sollen Schüler lernen, dass sie selbst für ihr Verhalten verantwortlich sind. „Die Schülerin wusste dann ganz genau, was sie bei mir erwartet“, sagt Fischer. Von nun an kam sie immer zu ihm, wenn es ein Problem gab.

Zu diesem Zeitpunkt war der Diplom-Sozialpädagoge Stefan Fischer in einem Berliner Projekt für Schulschwänzer tätig. Inzwischen arbeitet der 35-Jährige an einer Grundschule im Stadtteil Wedding, der als sozialer Brennpunkt gilt, als Schulsozialarbeiter. Vor vier Jahren begann er eine Fortbildung am Berliner Institut für Soziale Kompetenz und Gewaltprävention (BISG) in Kreuzberg. Hier lernen Pädagogen, mit schwierigen Kindern und Jugendlichen umzugehen, die ein auffälliges Verhalten gegenüber anderen zeigen oder sogar zu Gewalt neigen. Die Teilnehmer kommen aus allen Bundesländern – ähnliche Weiterbildungsangebote für Pädagogen gibt es jedoch bundesweit.

Mit den Fortbildungen sollen Pädagogen einen besseren Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen bekommen. BISG-Leiter Roland Büchner sagt: „Die Schule reagiert traditionell mit Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen. Die führen aber nicht zu einer Verhaltensänderung.“ Tadel, Verweise, Versetzung in eine andere Klasse, das bringe den Schülern keine soziale Kompetenz bei. „Viele Kollegen stehen den Jugendlichen ohnmächtig gegenüber und versuchen dann, auf ihre Provokationen mit Macht zu antworten“, sagt Büchner. Der Pädagoge geht vermeintlich als Gewinner aus der Situation heraus, weil er am längeren Hebel sitzt. Am Ende gibt es jedoch nur Verlierer. Geht es nach Büchner, sollten die Pädagogen an der eigenen Haltung arbeiten, dann verbessere sich auch die Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen.

Sozialpädagoge Simon Fischer nennt das: „raus aus der Meckerrolle“. Vor Beginn der Fortbildung stellte er sich auf eine anstrengende Zeit ein. „Doch dann bin ich nach den Kurswochenenden am Montag immer gestärkt in die Arbeit gegangen“, sagt Fischer. Der berufsbegleitende Zertifikatskurs „Pädagogik für Vermittlung sozialer Kompetenzen und Gewaltprävention“ am BISG in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule findet an 14 Wochenenden statt, verteilt über etwas mehr als ein Jahr. Fischer konnte sein gelerntes Wissen direkt umsetzen - etwa Kindern neue Handlungsmöglichkeiten zeigen, die sich bisher zum Beispiel nur durch aggressives Verhalten durchgesetzt hatten. Heute gibt Fischer selbst Trainings für Pädagogen.

Das Problem ist: Die, die es am meisten benötigen, kommen nicht. So sieht das zumindest Roland Büchner. Die Teilnehmer kämen hauptsächlich aus der Kinder- und Jugendhilfe, Lehrer seien in der Minderheit. „Viele Lehrer haben beschlossen, dass sie nach dem Zweiten Staatsexamen keine Weiterbildung brauchen“, sagt Büchner. Dabei bereite die Lehrerausbildung viel zu wenig auf den Schulalltag vor. Er vermutet als Grund für die mangelnde Bereitschaft auch, dass die Lehrer die Fortbildung selbst bezahlen müssen. Bei anderen Pädagogen beteiligt sich oft der Arbeitgeber. Der Zertifikatskurs am BISG kostet 1915 Euro, eine Förderung von 500 Euro ist durch die Bildungsprämie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung möglich.

Der Sozial- und Religionspädagoge Simon Sandmann, 27, aus Mühlheim an der Ruhr, hat schon mehrere Fortbildungen hinter sich. Vor drei Jahren besuchte er den Kurs zur „Multiplikatorqualifizierung Rechtsextremismus“ des DGB-Bildungswerks im nordrhein-westfälischen Hattingen, den auch die Bundeszentrale für Politische Bildung unterstützt. Simon Sandmann leitet in Mühlheim zwei evangelische Jugendhäuser. „Es hat mich beruflich und privat interessiert, mich mit dem Thema zu beschäftigen“, sagt er. Sechs Kurstermine besuchte er in Hattingen, sie dauerten jeweils zwischen zwei und fünf Tage.

Kai Venohr organisiert die Multiplikator-Kurse. Die Teilnehmer setzen sich mit rechtem Gedankengut auseinander - in der Theorie und mit Praxisübungen wie etwa Rollenspielen. Es geht um aktuelle Studien, rechtsextremistische Personen, Institutionen und Strategien. „Wir beschäftigen uns auch damit was verboten ist und was nicht. Da gibt es ja viele Grauzonen“, sagt Venohr. Die Teilnehmer besprechen, welche Musik gefährlich ist und welche Wörter Bands gebrauchen, um zum Beispiel antisemitische Botschaften verschlüsselt rüberzubringen. Während des Multiplikatortrainings erarbeiten alle Teilnehmer zudem Praxisprojekte. Kai Venohrs Erfahrung ist: „Wenn Leute ein Projekt machen, das gut läuft, dann machen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit noch ein zweites.“

Simon Sandmann kann sich gegenüber den Jugendlichen jetzt kompetenter in schwierigen Themengebieten bewegen, etwa wenn es um Antisemitismus geht. „Es kommen viele Jugendliche, die nicht frei sind von diskriminierenden Ansichten oder stockkonservativen Rollenbildern", sagt er. Um ihnen Verständnis für andere beizubringen, spielt er gerne ein bestimmtes Rollenspiel, das er in der Weiterbildung gelernt hat. Dabei stellen sich alle Teilnehmer in einem leeren Raum mit dem Rücken zur Wand. Jeder bekommt eine Rolle zugewiesen, etwa: eine ausgebildete Krankenschwester Mitte 20; ein 46-jähriger Alkoholiker; ein Asylbewerber, der gerade abgelehnt wurde; ein Beamter Mitte 30; eine 17-jährige Schwangere, die eine Abtreibung plant. Dann liest Sandmann 20 alltägliche Handlungen vor: „Du kannst in den Urlaub fahren, wenn du möchtest. Du kannst dir ein neues Auto kaufen, wenn dein altes kaputt ist. Du kannst dich auf einen Job bewerben.“ Wer bei einer Handlung denkt, dass die einem zugewiesene Rolle dazu passt, geht einen Schritt nach vorn. Am Ende steht fest, wer 20 Schritte gelaufen ist: Das ist in der Regel der Beamte Mitte 30. „Und wer steht noch an der Wand?“ fragt Simon Sandmann. „Der Asylbewerber. Alle rennen ihm davon.“ Sandmann hat das Spiel schon etliche Male mit Jugendgruppen und auf Lehrerfortbildungen angeleitet.

Auch der Hintergrund der Jugendlichen sei im Umgang mit ihnen immer wichtig, sagt Roland Büchner. Diese Erfahrung hat er als Berufsanfänger selbst gemacht. „Wie sagen wir immer so schön: Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ sagt Büchner. Das sagte er zu einem Jungen, der zwischen Vater und Mutter vor ihm stand und auf den Boden blickte. Was Büchner damals nicht wusste war, dass es im Kulturkreis des Jungen Respekt bedeutete, dem Erwachsenen nicht in die Augen zu sehen. Auch interkulturelle Kompetenzen spielen somit für die Fortbildung der Pädagogen eine Rolle.

Bei allen Möglichkeiten gibt es aber auch Grenzen. Venohrs Multiplikatoren können keine überzeugten Rechtsextremisten bekehren. Und Roland Büchner vom BISG sagt über die Gewaltpräventionskurse: „Unsere Konzepte sind kein Therapieangebot.“ Bei Anzeichen für ein schwerer wiegendes psychisches Problem oder auch bei schweren kriminellen Straftaten sei das Programm nicht mehr geeignet. „Das heißt aber nicht, dass man nach zwei kleineren Schlägereien von der Schule fliegen sollte“, sagt Büchner. Solche Schüler gingen verloren und tauchten dann möglicherweise erst in Kriminalstatistiken wieder auf.

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