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Schlängel erlaubt.

© IMAGO

Wirtschaft: Auf Umwegen zum Ziel

In Zeiten des Nachwuchsmangels ist in den Personaletagen ein Strategiewechsel zu beobachten. Damit erfahrene Manager den Unternehmen nicht verloren gehen, werden auch Karrieren möglich gemacht, die nicht mehr nur steil nach oben führen.

Herr über 150 Mitarbeiter zu sein, war ihm zu langweilig. Rainer Guggenberger, promovierter Chemiker, hatte es in seinen mehr als 20 Berufsjahren bis zum Vorstand für Forschung und Entwicklung bei der 3M Espe, dem Dentalspezialisten des US-Konzerns, gebracht. Doch Erfüllung brachte ihm dieser Posten an der Spitze der Karriereleiter nicht: Personalplanung, Mitarbeitergespräche und der Auftrag, die Organisation zu optimieren, waren ihm zu viel Verwaltungskram. „Wenn man Führungsverantwortung hat, geht häufig ,dringlich' vor ,wichtig'. Das gilt auch für einen Forschungsvorstand!“, musste der Bayer erkennen. Guggenberger wollte aber viel lieber wieder das tun, was er wirklich gut kann und was ihm am meisten Spaß macht: Innovationen vorantreiben und rasch Lösungen finden, wenn es auf dem Weg neuer Zahnheilmittel vom Labor in den Handel hakt. So wie Rainer Guggenberger geht es offenbar vielen erfahrenen Managern: Ihnen vergeht im Laufe der Zeit die Lust an dem, was sie tun. Ihr Wunsch nach Veränderung wächst.

Das zeigt das „Managerbarometer 2013“, für das die Personalberatung Odgers Berndtsonmit der Tageszeitung Handelsblatt rund 1 200 Führungskräfte aus allen Branchen und aller Firmengrößen danach befragte, was sie für ihren nächsten beruflichen Schritt tun würden. Darauf antworteten 88 Prozent, sie seien bereit, „in eine andere Branche zu wechseln“, und 79 Prozent würden auch „fachlich in eine neue Richtung gehen“. Immerhin gut ein Viertel der Manager wären zudem bereit, Gehaltseinbußen hinzunehmen, wenn sie dafür bei der nächsten Aufgabe ihre persönlichen Stärken und Begabungen besonders gut einsetzen könnten – für die Mehrheit der Befragten (62 Prozent) ist dieser Wunsch der Hauptmotivator für ihren weiteren Werdegang.

Auf Platz zwei mit 58 Prozent folgt die Freude an einer Führungsaufgabe, gefolgt vom Arbeitsinhalt auf Rang drei. Gehalt, Status und Titel dagegen rangieren auf den Plätzen fünf und sechs. Macht ist nur für gut ein Drittel noch stärkster Karrieremotor. Und das in Deutschland, wo sich beruflicher Erfolg nach der Größe des Dienstwagens, des Betrags auf der Gehaltsabrechnung und vor allem der Anzahl Untergebener bemisst.

Stattdessen wünschen sich Führungskräfte lieber ein Home- Office und flexiblere Arbeitszeiten inklusive beruflicher Auszeit. Die hohe Wechselbereitschaft – nicht nur weg vom aktuellen Arbeitgeber, sondern sogar raus aus der gewohnten Branche – hat Studienleiter Jürgen van Zwoll, Partner bei Odgers Berndtson, sehr überrascht. Er ist seit 18 Jahren im Geschäft und erklärt sich das so: „Die Studienteilnehmer sind im Schnitt Mitte 40. Zur Lebensmitte stellen sie sich die Frage: ,Was kommt jetzt?' Und viele von ihnen denken offenbar: ,Ich könnte mir beruflich noch etwas völlig anderes vorstellen.'“

Das wiederum alarmiert Deutschlands Arbeitgeber. In Zeiten, in denen sich große Belegschaftsteile in den Ruhestand verabschieden und es an Nachwuchs mangelt, noch zusätzlich wertvolle Wissensträger zu verlieren, ist bedrohlich fürs Geschäft. Und so ist in etlichen Unternehmen in Sachen Personalstrategie eine Kehrtwende zu beobachten: Konnte bislang meist nur vorankommen, wer als bester Ingenieur, IT-Spezialist oder Finanzfachmann bereit war, Personalverantwortung zu übernehmen, und kümmerten sich bisher Personalchefs intensiv um diesen Führungsnachwuchs bis maximal 35 Jahre, kann van Zwoll inzwischen anderes von seinen Auftraggebern berichten: „Das Erfahrungswissen von Älteren soll mehr und besser als bislang genutzt werden.“

Neue, flexible Laufbahnoptionen sollen vielfältigere Möglichkeiten als zuvor bieten, um die berufliche Zukunft den persönlichen Stärken, Wünschen und Bedürfnissen zu beliebigen Zeitpunkten anzupassen. Um wertvolle Wissensträger zu binden, soll „Karriere“ nicht mehr bedeuten, es geht steil nach oben. Sondern es sollen auch Seitwärtsbewegungen drin sein: zeitlich befristete Projekteinsätze, eine interne Berater- oder Mentorfunktion, ja sogar Auszeiten vom Job mit Rückkehrgarantie. Die klassische Karriereleiter wird zum Klettergerüst samt Hängematte ausgebaut.

Und es gibt noch eine gute Nachricht: Die Unlust, Mitarbeiter zu führen, bedeutet nicht länger automatisch Gehalts- und Imageverlust. Damit würde sich die Hauptforderung derjenigen Befragten des Manager-Barometers erfüllen, für die selbst ein Wechsel in die Fachlaufbahn infrage käme. Manager und Experten werden gleichrangig.

Wie eine solche Karriere Marke „Klettergerüst“ funktioniert, machen Unternehmen wie 3M oder IBM vor. Bei ihnen haben Führungs- und Fachkräfte gleichwertige Karrierechancen, von Anfang an. Auch ihre Vergütung inklusive Boni und Dienstwagen entwickelt sich ob mit oder ohne Personalverantwortung parallel, von Level zu Level. Und der Wechsel vom einen zum anderen Pfad ist möglich. So bot sich auch für Vorstand Rainer Guggenberger die Chance, zu seiner Lieblingsbeschäftigung zurückzukehren. Der international erfahrene und renommierte Dentalspezialist wurde 2008 im Alter von 54 Jahren vom Konzernchef zum „Corporate Scientist“ ernannt. Von diesen Koryphäen ihres Fachs gibt es im Konzern mit seinen rund 88 000 Mitarbeitern weltweit gerade mal 30. Sie stehen an der Spitze aller Fachleute und auf einer Stufe mit den etwa 60 Bereichsleitern. Ihre Bedeutung verdeutlicht Jörg Dederichs, Personalchef von 3M Deutschland, an diesem Beispiel: „Wenn ein Corporate Scientist unseren CEO Inge Thulin anruft, ihn aber verpasst, ruft der garantiert zurück.“ Guggenberger ergänzt zufrieden: „Endlich bin ich nur noch für ,wichtig' zuständig.“

Ihm ist zwar kein einziger Kollege mehr direkt unterstellt, aber in Absprache mit dem globalen Forschungsdirektor stellt er für seine Projekte Teams zusammen – vom Physiker bis zum Zahnarzt. „Ein Team zu Höchstleistungen anzuspornen, ist mir als Führungsaufgabe geblieben. Ich sehe mich aber mehr als Coach der Kollegen“, sagt Guggenberger und fährt fort: "Ich habe viel von meinen Erfahrungen aus der Führungslaufbahn profitiert. Denn je mehr Perspektiven man einnehmen kann, umso runder wird die Sache.“

Solche Laufbahnmuster werden künftig quer durch alle Branchen zu beobachten sein. Denn gezielte Fördermaßnahmen für Fachkräfte, bislang bei deutschen Unternehmen wie Siemens, Bosch oder Continental gerade mal für unentbehrliche Forscher und Entwickler im Angebot, dehnen sich auf andere Beschäftigungsgruppen aus. Beispiel Volkswagen: Der Wolfsburger Automobilhersteller ermittelt gerade systematisch in elf Berufsfamilien – von der Produktion über das Finanzwesen und den Personalbereich bis hin zur Logistik – , wo und wie viele

Experten in den nächsten Jahren benötigt werden. Ziel ist es, Experten und Top-Experten entsprechend aufzubauen. „Bei uns steht Fachkompetenz im Vordergrund“, sagt Ralph Linde, Leiter der Volkswagen Group Academy. „Sollen die Experten außerdem Mitarbeiter führen, müssen sie eine Führungslizenz erwerben. In vier Modulen lernen die Führungsnachwuchskräfte innerhalb von sechs Monaten alle wichtigen Elemente für ihre zukünftige Tätigkeit. Die Durchlässigkeit zwischen den beiden Karrierewegen ist dabei gegeben.“

Und sogar mittelständische Unternehmen wie Modehersteller Hugo Boss oder

Energiedienstleister Techem experimentieren mit neuen Karriereverläufen parallel zur Führungslaufbahn, um Mitarbeiter mit Schlüsselqualifikationen, ob im Finanzwesen, Marketing oder in der Entwicklung, enger zu binden – egal, welchen Alters. Bei Pharmaproduzent Grünenthal etwa sind in dem kleinen, aber feinen Spezialisten-Pool selbstverständlich auch über 50-Jährige mit von der Partie. Oliver Lamm, verantwortlich fürs Personal bei Grünenthal Innovation, erkundigte sich bei den Experten: „Was wünscht ihr euch, um euch bei uns weiterzuentwickeln?“ Die Antworten waren breit gefächert: Ein Kollege wollte für einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt nach London entsendet werden. Eine Humanmedizinerin denkt an eine Weiterbildung in Sachen Wirtschaft. Sicher, alles keine Kleinigkeiten, die der Arbeitgeber da spendieren soll, aber Personaler Lamm ist überzeugt: „Es ist eine gute Investition in unsere Firmenzukunft.“ HB

Claudia Obmann

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