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Wirtschaft: Aufstieg Ost

Die neuen Länder sind kein hoffnungsloser Fall. Mancherorts haben sie den Westen sogar schon überflügelt

Von Carsten Brönstrup

Berlin. Wenn Hans-Werner Sinn auf den Osten Deutschlands zu sprechen kommt, verfinstert sich seine Miene. Von flauem Wirtschaftswachstum und Millionen Arbeitslosen berichtet der Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung dann, von darbenden Unternehmen und leeren Staatskassen. „Ein echtes Mezzogiorno“, urteilt Sinn schroff – ein Landstrich wie der Süden Italiens also, in dem auf Jahre Milliarden wirkungslos versickern und deshalb zähe Armut herrscht.

Trotzdem gibt es Hoffnung für die neuen Bundesländer. Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung steht der Osten nicht überall auf der Kippe – einige Branchen haben die westdeutsche Konkurrenz überflügelt. Und mancherorts ist die Infrastruktur besser, können die Unternehmen flexibler arbeiten, sind die Lebensbedingungen komfortabler als in der alten Bundesrepublik. „Wer genau hinsieht, findet ein paar Überraschungen“, sagt Udo Ludwig, Konjunkturchef des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

Beispiel Tourismus: „In ganz Deutschland haben Hotels und Pensionen im ersten Halbjahr weniger Übernachtungen gezählt – nur in Mecklenburg-Vorpommern nicht“, jubelt Marc Schnerr vom Gastronomieverband Dehoga. Der abgeschiedene Norden verbuchte ein Plus von neun Prozent, während das klassische Ferienland Bayern ein Minus von sieben Prozent hinnehmen musste. Kaum ein Branchenkenner bezweifelt, dass Rügen und Usedom mittlerweile den Nordsee-Inseln den Rang abgelaufen haben.

Beispiel Landwirtschaft: „Die Agrarbetriebe im Osten haben die West-Konkurrenz hinter sich gelassen“, berichtet IWH-Experte Ludwig. Wegen der riesigen Felder aus LPG-Zeiten sind die Arbeiter produktiver, deshalb produzieren sie Mais, Rüben oder Getreide billiger als die Landwirte im Westen. In der Chemie und im Holzgewerbe hat die einst chronisch unproduktive Ost-Industrie mittlerweile ebenfalls die Nase vorn.

Und auch bei den Standortbedingungen haben Thüringen, Sachsen oder Brandenburg Boden gutgemacht. So preisen Fachleute das „modernste Telefonnetz der Welt“, das die Deutsche Telekom bis zum Jahr 2000 in den ostdeutschen Sand setzte. Kostenpunkt: 25,5 Milliarden Euro. Dafür gab es vielerorts Glasfaser- und ISDN-Verbindungen, und die Technik sei besser als in den USA oder Japan, beteuert der Staatskonzern.

Modern sind auch die Straßen – wenn es sie denn schon gibt. „Die neu gebauten Autobahnen sind auf einem besseren Standard als im Westen, breiter und moderner“, sagt Jolanta Tober vom ADAC. Ausreichend sei die Ausstattung indes erst, wenn noch mehr Geld in den Straßenbau flösse, sagt die Motor-Lobbyistin – allein neun Milliarden Euro müssten etwa in den Autobahnbau fließen.

Mindestens ebenso wichtig ist für die Unternehmen indes die Kostenfrage. Auch da lässt der Osten Spielraum, denn „Flächentarifverträge spielen hier so gut wie keine Rolle mehr“, sagt IWH-Ost-Experte Ludwig. Nur noch ein Sechstel aller Unternehmen gehört einem Tarifverbund an, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) jüngst in einer Umfrage ermittelt. Damit können sie Löhne individueller aushandeln und der Lage des Betriebs anpassen.

Nicht nur die Wirtschaft, auch einigen Menschen geht es besser. Die größten Wende-Gewinner sind die Rentner: Frauen beziehen im Schnitt 35 Prozent mehr als West-Seniorinnen, Männer drei Prozent mehr. Selbst bei der Bildung macht sich der Osten nicht schlecht: Ein Lehrer betreut in Thüringen nur 14,9 Schüler, in Sachsen 16,2 – deutlich weniger als in Baden-Württemberg – das dürfte allerdings auch eine Folge der Massen-Abwanderung gen Westen sein. „Es ist noch viel zu tun“, weiß IWH-Forscher Ludwig. „Doch der Osten wird weiter aufholen – langsam, aber sicher.“

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