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Wirtschaft: August-Wilhelm Lammert

Er war Geografielehrer und erzählte den Schülern von fremden Landschaften, Sitten und Gebräuchen. Dabei hasste er das Reisen.

Er war Geografielehrer und erzählte den Schülern von fremden Landschaften, Sitten und Gebräuchen. Dabei hasste er das Reisen. Ferien in Südtirol, das war das Äußerste.

Wenn der Lammert sich aufregte, das war schon was. Das konnte einem schon Furcht einjagen. Sein Gesicht wurde dann noch ein wenig roter als sonst, und die vom Singen trainierte Tenorstimme wurde laut. Sehr laut. Wenn Lammerts Sohn etwas ausgefressen hatte, ging er lieber zur Mutter und beichtete. Die konnte ihren August-Wilhelm nehmen, kannte seine ruhigen Momente und brachte ihm die schlechten Neuigkeiten in verdaulichen Portionen bei.

Der Lammert konnte auf den Tisch hauen und sagen, dass ihm etwas nicht passte. Wenn alle bei den Konferenzen im Lehrerzimmer der Paul-Natorp-Schule den Mund hielten, aus Angst oder Bequemlichkeit, dann bekam er seinen Koller und polterte los. Regte sich auf über Ungerechtigkeiten und pedantische Härten seiner Kollegen. Empörte sich, wenn die anderen Lehrer in den Schülern nur noch Lernmaschinen sahen und nicht mehr die Menschen. „Was, der soll sitzen bleiben, nur weil ich ihm eine vier gebe?“, sagte Lammert. „Dann kriegt er eben eine Drei.“

Unbequem war Lammert und eine Bereicherung. Ein „aufrechter Querdenker“, sagen die Kollegen heute anerkennend, einer, der gegen den Strom schwamm, weil er nicht anders konnte.

Die erste Stelle als Lehrer für Geografie und Geschichte fand Lammert 1949 in Güstrow. Dort leiteten seine Eltern ein Heim der Diakonie für tingelnde Handwerksburschen und Flüchtlinge. Dort gab es, auch in den magersten Nachkriegszeiten, immer etwas zu essen für Lammert und seine junge Frau Eva, die er an der Universität Rostock kennen gelernt hatte.

Auf dem großen Gelände mit den Schweine- und Kuhställen, mit den Obstgärten und Schuppen hatte August-Wilhelm Lammert in der Kindheit mit seinem Freund „Scheppen“ Räuber und Gendarm gespielt. Auf dem Ofen lag die „Klopp-Peitsche“ des Vaters. Bei fünf Kindern musste jeder spuren, sonst setzte es was. Also ging Lammert zu Scheppens Mutter, wenn er nicht für die Lateinarbeit gelernt hatte. Die ließ ihn, während die Schulstunde ohne ihn stattfand, in ihrer Küche sitzen und schmierte Marmeladenbrote.

Mit dem Scheppen war das ohnehin etwas ganz besonderes. Mit ihm war Lammert fast 70 Jahre lang befreundet, auch wenn sie zum Schluss nur noch telefonierten. Vor dem Krieg tobten sie durch das Heim in Güstrow, nach dem Krieg gingen sie zusammen zum Studieren, verschoben zehn Flaschen Schnaps an die Russen für 30 000 Mark, steckten die Geldballen in ihre Stiefel und kauften davon das erste gemeinsame Auto.

So dringend suchte man damals Lehrer in der DDR, dass Lammert und seine Frau ihr Studium in Rostock abbrechen und ohne Examen in den Schuldienst gehen konnten. Es ging nicht lange gut. Bald stand Lammert im Lehrerzimmer und formulierte in deutlichen Worten seine Meinung über den neuen Staat: „Ich mach’ diesen Quatsch nicht mehr mit“, polterte er. „Wie die Russen die Leute hungern lassen!“ Als eine Unterschriftenliste zu Ehren Stalins herumging, platzte ihm der Kragen. Die anderen Lehrer guckten sich noch ängstlich um, wer womöglich gerade hinter ihnen stand, da war der Kollege Lammert schon weg. Im hohen Bogen rausgeflogen aus der Schule, vorbei war die Karriere in der DDR.

„Wir gehen nach West-Berlin“ sagte er 1951 zu seiner Frau, „an die Freie Universität“. Dort empfing man sie, die gar nichts hatten, mit offenen Armen. Es gab ein Stipendium von 80 Mark, gespendete Kleider von den Amerikanern und jeden Tag eine kostenlose Mahlzeit in der Mensa der FU. Die Lammerts lebten mit ihrem kleinen Sohn in einem Zimmer in Dahlem und lernten für das Examen. Als der Kleine Scharlach hatte, war das das große Gesprächsthema an der damals noch so familiären Universität.

Auf dem schmalen Gästesofa schliefen oft Freunde aus der DDR, die in den Westen wollten. Die Lammerts holten Eintopf in Milchkannen aus der Mensa und öffneten die „Senatsreserve“. Konserven mit eingelegtem, ziemlich fetten Rindfleisch, die die West-Berliner in den Zeiten des Kalten Krieges in ihren Kellern lagerten.

Der Freund Scheppen kam eines Tages nach West-Berlin, da hatten die Lammerts schon ihr kleines Reihenhaus gekauft. Scheppen fand es, wie viele damals, zu gefährlich in Berlin, er wollte weiter, möglichst noch über den Rhein und ging nach Saarbrücken. Auch Lammert machte sich Sorgen. Aber noch einmal aufbrechen, noch einmal bei Null anfangen? Also wurden für alle Fälle Vorräte gehortet im Zehlendorfer Reihenhaus, erst im Keller, später im Gefrierschrank. In den frühen Jahren Cornet Beef, später Süßigkeiten für die Enkelkinder. Und immer die Hoffnung, dass doch noch alles gut geht.

Im Erdkunde-Unterricht erzählte Lammert den Schülern von fremden Landschaften, Sitten und Gebräuchen. Dabei hasste er das Reisen. Ferien in Südtirol, das war das Äußerste, was er gerade noch mit sich machen ließ. „Ein richtiger Hausknochen“ war ihr Mann, sagt Eva Lammert, ein Gewohnheitstier: sein Garten, sein Zimmer, sein Klavier, seine Zeitung, die Mahlzeiten immer zur festen Uhrzeit.

Einmal lud er seine Schüler zu sich nach Hause ein. Es waren schon Volljährige dabei, und es floss auch Alkohol. Sein schlechtester Schüler, ein echter Sorgenknabe, fuhr danach mit dem Auto und landete schließlich im Straßengraben. Mitten in der Nacht klingelte er zerknirscht an der Haustür. Lammert zögerte keinen Moment. Für ihn war klar, dass er dem Jungen half, bevor die Polizei kam. Keine Spur von Zorn war da in seinem Gesicht, und es fiel kein lautes Wort. Auch nicht bei seinen Enkelkindern, die er nach Strich und Faden verwöhnte. Da sollen sich andere aufregen, mag er sich gedacht haben. August-Wilhelm Lammert starb an den Folgen seines hohen Blutdrucks, einem Aneurysma an der Bauchspeicheldrüse. Kirsten Wenzel

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