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Die Bahnindustrie: Schneller als die Formel 1

Ob Superschnellzug oder Straßenbahn - der Markt wächst. In der Hauptstadt entwickeln Ingenieure die modere Technik. Teil 5 der Tagesspiegel-Serie Berlindustrie 2011.

Antonio Pizzonia ist noch immer der Schnellste. Auf 369,9 Kilometer in der Stunde beschleunigte der Brasilianer seinen Williams-BMW 2004 an einem Rennsonntag im italienischen Monza. Schneller war noch nie jemand in der Formel 1 unterwegs, nicht einmal Michael Schumacher. Pizzonias Rekord gilt noch immer.Bei der Eisenbahn wird das Expresstempo Pizzonias schon bald gewöhnlicher Alltag sein - zumindest in China. Nächstes Jahr werden die ersten Superschnellzüge zum Einsatz kommen, die mit Tempo 380 unterwegs sind. Das ist eine neue Dimension, auch in der Volksrepublik, die gerade mit immensem Aufwand ihr Eisenbahnnetz ausbaut. Dafür, dass bei 380 Stundenkilometern nichts schiefgeht, sind rund 400 Ingenieure in Hennigsdorf bei Berlin verantwortlich. Sie arbeiten für den kanadischen Bahnhersteller Bombardier und haben den Zefiro 380 maßgeblich entwickelt.

Dabei mussten sie nicht nur dafür sorgen, dass der Zug möglichst flott unterwegs ist. "Es geht beim Zefiro nicht wie bei bisherigen Hochgeschwindigkeitszügen in erster Linie um Geschwindigkeit und Prestige", sagt Christoph Klaes, der für das Projekt verantwortliche Manager. "Es geht auch um Effizienz, also um eine Kombination von hoher Kapazität und geringem Energieverbrauch." Keine leichte Aufgabe bei einem solchen Rekordtempo - zumal der Komfort für die Passagiere auch nicht zu kurz kommen darf. Das sind bei der Standardversion des Zuges immerhin gut 1300 Fahrgäste, rund dreimal so viele wie in den modernsten ICE 3 der Deutschen Bahn passen.

Produkte wie der Zefiro 380 sind High-Tech, und die Schnellzüge erleben gerade weltweit einen enormen Aufschwung. Bei fast allen Produkten rund um die Eisenbahn ist die Berliner Industrie eine feste Größe - vom Schaltschrank über Signalanlagen, Stellwerke und Steuerungssoftware bis hin zu Straßenbahnen und Regionalzügen. Vieles davon wird auch in der Hauptstadt entwickelt und erprobt - Bombardier, das sein weltweites Bahngeschäft von Berlin aus steuert, ist nur ein Beispiel von vielen. Die Branche erwartet Großes: In den kommenden Jahren soll der rund 120 Milliarden Euro schwere Eisenbahn-Weltmarkt Studien zufolge jedes Jahr um vier Prozent wachsen.

Gleichwohl ragen Vorzeigeprodukte wie der Zefiro heraus. Die Entwickler mussten angesichts von steigenden Energiepreisen und Klimawandel an vielen Stellen ansetzen, damit der Zug sparsam mit Strom umgeht - bei der Aerodynamik, dem Antrieb, den Bremsen, dem Innenraum. "Es gibt heute bei neuen Zügen kaum noch Quantensprünge in der Entwicklung", erklärt Bombardier-Mann Klaes. Zumal angesichts der hohen Geschwindigkeit Material und Konstruktion ganz besondere Anforderungen erfüllen müssen. "Bei Tempo 380 darf es natürlich keine Probleme geben", sagt Klaes.

Strom wird teurer, Züge müssen sparsamer werden

Rund sechs Prozent ihres Umsatzes steckt die Bahnbranche in Forschung und Entwicklung. Das ist viel Geld, doch einen Milliardenaufwand wie die Autoindustrie können die Hersteller nicht betreiben. Gut zwei Jahre dauert es etwa bei Bombardier, bis sich das Unternehmen mit einem neuen Modell um Aufträge bewerben kann. Prototypen werden in der Regel nicht hergestellt, dazu sind die Stückzahlen zu gering - trotz der aktuellen Auftragsflut. Daher bleibt es meist bei Holzmodellen, bei denen dann Design und Funktionalität erprobt werden. Ehe der erste Zug aus den Werkshallen rollt, vergehen noch einmal bis zu drei Jahre.

Bei Superschnellzügen ist dieses Verfahren im Prinzip nicht anders als bei Straßenbahnen oder Regionalzügen - gebaut wird nur auf Bestellung. Denn jeder Betreiber, ob die Deutsche Bahn oder die Straßenbahn Zwickau, stellt andere Anforderungen an ein Fahrzeug. Der Schweizer Zugkonzern Stadler, der vier Standorte in und um Berlin unterhält, hat daraus ein Geschäft gemacht. Das Werk Pankow ist das Kompetenzzentrum für das weltweite Tram-Geschäft. "Um den Autoverkehr einzudämmen, reaktivieren derzeit viele Städte ihre Straßenbahnen", berichtet Stadler-Sprecherin Katrin Block. Auch Regionalzüge verkaufen sich gut, in den kommenden Jahren werden für die Hälfte des deutschen Schienenmarktes neue Aufträge vergeben. Gute Karten haben hier Hersteller, deren Züge sich besonders flexibel wahlweise mit Sitzen, Rollstuhlplätzen oder Fahrradabteilen ausstatten lassen - auch das ist eine Art Innovation. Stadlers Doppelstockzug Dosto hat für seine Variabilität sogar schon Preise gewonnen. Ab Ende 2012 kommt der Dosto auch in Berlin und Brandenburg zum Einsatz.

Die schmucken neuen Züge funktionieren aber nicht ohne passende Signale und leistungsfähige Leittechnik auf und neben den Gleisen. Um deren Entwicklung kümmern sich mehrere Dutzend Siemens-Ingenieure in Treptow. Dort hat der Konzern ein Kompetenzzentrum für das europäische Leitsystem ETCS eingerichtet. Es soll den grenzüberschreitenden Zugverkehr vereinfachen - heute gibt es auf dem Kontinent noch mehr als zehn unterschiedliche Signal- und Sicherungssysteme. Für die Bahnbetreiber bedeutet das viel Aufwand - sie müssen ihre Züge mit Mehrfachsystemen ausrüsten oder an Landesgrenzen die Loks wechseln.

Die Siemens-Leute kümmern sich darum, die Strecken und Fahrzeuge mit den nötigen Bauteilen, der entsprechenden Software und Steuerung auszurüsten. Dazu sind aufwendige Simulationen und Berechnungen nötig. Durch die Hilfe des Computers soll Bahnfahren damit auch sicherer werden - damit Temporekorde im Stil eines Antonio Pizzonia überhaupt erst möglich werden.

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