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Wirtschaft: Betriebsrat: Siemens gibt Deutschland auf

Belegschaft fürchtet die langfristige Verlagerung von 74000 Arbeitsplätzen ins Ausland/MAN diskutiert Mehrarbeit

München/Berlin (nad/mot). Die von Deutschlands größtem Elektronikkonzern Siemens geplante Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer könnte weitaus größere Dimensionen annehmen, als bisher bekannt ist. Der Betriebsrat fürchtet, dass langfristig bis zu 74000 der heute 170000 Stellen aus Deutschland ins Ausland verlegt werden könnten. Ein Konzernsprecher nannte die Darstellung „Panikmache“. Auch der Maschinen und Nutzfahrzeugkonzern MAN droht seinen Mitarbeitern mit Stellenverlagerung, sofern sie sich nicht zur Mehrarbeit ohne Lohnausgleich bereit erklären.

In einem am Donnerstag in Erlangen verabschiedeten Positionspapier erklärte der Siemens-Betriebsrat, der Konzernvorstand begründe die Verlagerung von Jobs ins Ausland nun nicht mehr mit der Arbeitsplatzsicherung in Deutschland. Vielmehr werde die Gewinnsteigerung an allen Siemens-Standorten „als eigenständiges Ziel“ propagiert. „In letzter Konsequenz wird dadurch der Standort Deutschland in Frage gestellt“, heißt es.

Das im Herbst verabschiedete Strategieprogramm „Siemens Management System“ (SMS) sieht vor, dass weltweit Umsatz und Wertschöpfung in den jeweiligen Märkten angeglichen und „optimiert“ werden sollen. Im Klartext: Künftig sollen alle Siemens-Arbeitsplätze gebündelt und unabhängig von Umsatz und Ergebnis möglichst kostengünstig platziert werden. In Deutschland hatte Siemens zuletzt stagnierende Umsätze verbucht. Bereits heute arbeiten 60 Prozent aller Siemens-Mitarbeiter im Ausland und erwirtschaften 80 Prozent des Umsatzes.

Anfang April hatte der Konzern angekündigt, 5000 Jobs seien von den Sparplänen betroffen – die meisten in den Sparten Mobilfunk, Energieverteilung und Netzwerke. Die IG Metall ging bislang von mehr als 10000 Stellen aus. Für den Standort Berlin, wo Siemens 14600 Mitarbeiter beschäftigt, gab der Betriebsrat vorerst Entwarnung. „Berlin ist nicht unmittelbar von den Verlagerungen betroffen“, sagte Konzernbetriebsratschef Georg Nassauer am Donnerstag dem Tagesspiegel. Allerdings werde „die Diskussion um die 40-Stunden-Woche auch an Berlin nicht vorbeigehen“. Noch hätten die Gespräche darüber aber nicht begonnen. Siemens-Chef Heinrich von Pierer hatte gefordert, es müsse an einigen Standorten für gleiches Geld mehr gearbeitet werden. Eine generelle Arbeitszeitverlängerung komme aber nicht in Frage.

Die Strategie des Siemens-Managements bedeute eine „existenzielle Bedrohung für einen Großteil der Belegschaft, für zahlreiche Firmenstandorte und für den Industriestandort Deutschland als Ganzes“, heißt es in dem Papier der Betriebsräte. Gesamtbetriebsratschef Ralf Heckmann befürchtet, dass Siemens mit dem SMS-Programm den schrittweisen Rückzug aus Deutschland einläutet. „Siemens startet aus reiner Profitgier ein groß angelegtes Programm zur Arbeitsplatzvernichtung“, sagte er. Der Betriebsrat will nun prüfen lassen, wie hoch der Lohnkostennachteil in Deutschland tatsächlich ist. So soll die Beratungsgesellschaft Ernst & Young die Kosten der Fertigung für mobile und schnurlose Telefone in Kamp-Lintfort und Bocholt mit denen der Fertigung in Ungarn vergleichen. Von Pierer hatte behauptet, die Arbeitskosten seien dort um 30 Prozent niedriger. Der Abzug von 200 Service- Arbeitsplätzen aus Bocholt war nach Zugeständnissen der Belegschaft verhindert worden. „Das kann kein Modell für den Konzern sein“, sagte Betriebsratschef Nassauer.

Ein Siemens-Sprecher nannte die vom Betriebsrat veröffentlichte Zahl von 74000 gefährdeten Stellen „arithmetische Spekulationen“. Man könne nicht einfach die Umsatzzahlen ins Verhältnis zu den Mitarbeitern setzen. Der Sprecher bestritt aber nicht, dass sich die Schere zwischen Inlands- und Auslandsmitarbeitern öffne. „Langfristig wird sich die Tendenz fortsetzen, dass die Zahl der Mitarbeiter im Inland abnimmt und die der Mitarbeiter im Ausland zunimmt“, sagte er dem Tagesspiegel.

Beim Maschinenbau- und Nutzfahrzeugkonzern MAN geht der Betriebsrat optimistischer in die Verhandlungen mit der Konzernführung. MAN-Chef Rudolf Rupprecht hatte Mehrarbeit bei gleicher Bezahlung gefordert, um Kosten zu sparen. Auch MAN werde nicht alle Stellen in Deutschland retten können. „Bei uns kann man hoch qualifizierte Arbeitsplätze nicht so einfach verschieben“, sagte Konzernbetriebsratschef Lothar Pohlmann dem Tagesspiegel. In Bereichen wie Druck- und Dampfmaschinen oder Dieselmotoren sei es viel zu teuer, die notwendige Infrastruktur ins Ausland zu verlagern. Zudem wies er darauf hin, dass bereits knapp ein Fünftel der Belegschaft 40 Stunden pro Woche arbeite.

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