zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Börse: Wie ein Merrill-Lynch-Broker nervöse Kunden beruhigt

Ein flüchtig geschriebener, gelber Zettel auf seinem Schreibtisch erinnert den Broker John Parisi daran, wie er mit Kunden umgehen sollte: "Kontaktieren, beruhigen. Den Kunden wissen lassen, dass wir hier sind.

Ein flüchtig geschriebener, gelber Zettel auf seinem Schreibtisch erinnert den Broker John Parisi daran, wie er mit Kunden umgehen sollte: "Kontaktieren, beruhigen. Den Kunden wissen lassen, dass wir hier sind. Nur keine Panik entstehen lassen. Entscheidungen von Emotionen oder Impulsivität frei halten." Genau das tut der 36-jährige Parisi, Broker bei Merrill Lynch & Co, seit den Terrorangriffen vor zwei Wochen. Er saß nicht nur bei der Tragödie in der ersten Reihe - sein Büro lag auf der anderen Straßenseite des World Trade Centers - sondern er erlebt nun auch hautnah mit, wie Privatanleger auf die Achterbahnfahrt an der Börse in der vergangenen Woche reagieren. Seit die Wall Street am vergangenen Montag wieder öffnete, klingelt sein Telefon permanent. Kunden wollen in ihrer Panik Aktien kaufen, Barmittel erhöhen, ihre Hypotheken refinanzieren oder einfach nur über ihre Zukunftsängste sprechen. "Das hat jeden aufgerüttelt", sagt Parisi, der für rund 100 Kunden Gelder in Höhe von insgesamt 150 Millionen Dollar (16,2 Millionen Euro) anlegt. "Jedes Mal, wenn ich den Telefonhörer abhebe, kommt ein Kunde mit einem neuen Anliegen." Der drahtige, energische Mann ist seit 1988 bei Merrill Lynch. Nachdem er früher als Bond-Trader gearbeitet hat, berät er seit vier Jahren Privatkunden in ihren Anlagegeschäften. Kurz nach Eröffnung der Börse am Montag wollten viele Kunden Aktien kaufen. Die Wertpapiere waren äußerst günstig. Der pensionierte Ex-Verkaufsmanager Eugene Della Vecchia, der Häuser in Connecticut und Florida besitzt, wollte mehr Geld in einen Aktien-Indexfonds stecken. "Es gibt jetzt sehr gute und günstige Kaufmöglichkeiten", sagte Della Vecchia. Seine Frau Judith fügte jedoch rasch hinzu, dass sie in Zeiten einer nationalen Tragödie "nicht am Verlust anderer Menschen verdienen wolle". Ein anderer Kunde von Parisi hingegen kaufte Aktien in der Hoffnung auf einen weiteren Kursrückgang. Als der Dow-Jones-Index jedoch am Mittwochnachmittag auf einmal 400 Punkte verlor, hörten die Anrufe von Kunden auf, die Aktien kaufen wollten. Die Privatanleger hielten den Atem an. Als sei es nicht genug, die Hände so vieler Kunden zu halten, muss Parisi dies von einen Ausweichquartier in New Jersey tun - mehrere hundert Kilometer von seinem früheren Büro im 40. Stock des World Financial Center entfernt, gegenüber vom ehemaligen World Trade Center. Sein früheres Arbeitszimmer, mit Sicht auf den New Yorker Hafen, war die Zentrale von Merrill Lynch und Sitz von 200 Brokern. Es ist jetzt unbewohnbar. Obwohl noch Kundendateien und sein Handy auf seinem Schreibtisch in New York liegen, hat Parisi nach dem Desaster mit aller Kraft versucht, die Kunden zu erreichen. Die Notunterkunft liegt im dritten Stock eines Bürohauses, das Merrill Lynch in einem Vorort von New Jersey gemietet hat. Das Büro ist eine Stunde vom südlichen Manhattan entfernt. Im Gegensatz zu glänzenden Holzbeschlägen an den früheren Büroräumen stehen ihre Namen jetzt mit der Hand geschrieben auf einem in der Mitte geknickten Papier. Niemand hat Zeit, sich über die Büroausstattung Gedanken zu machen. Parisi hat Stunden lang die Kunden überredet, die Börsenstürme auszuhalten und an ihren Anlagen festzuhalten. Einer von ihnen ist der Bond-Händler John Stewart, der Parisi anrief und fragte, ob er sein Aktiendepot erweitern sollte. "Der Markt bricht auseinander", sagte Stewart. "Vielleicht sollte ich versuchen, auf den Markt-Tiefpunkt zu setzen." "Halten Sie durch und warten Sie ab, bis sich der Staub gelegt hat", antwortete Parisi. "Es wird Chancen geben, Geld zu machen, aber ebenso gross ist die Gefahr, Geld zu verlieren. Es macht überhaupt keinen Sinn, da jetzt einzusteigen." Ein anderer Klient rief aus Florida an und wollte wissen, ob er einen Teil seiner großen Barmittel in Aktien stecken sollte. Parisi riet dem pensionierten Anästhesisten Carl Barrese davon ab. Barrese hält sich nun zurück. "Ich werde einfach warten", sagt er. "An der Börse wird derzeit mit Emotionen gehandelt."

Nicht bei allen Anrufen geht es um Aktien. Ein Kunde wollte einen Teil von kurzfristigen Bond-Fonds in Geldmarkt-Fonds umschichten. Ein anderer wollte einen Kredit nach einer weiteren Senkung der kurzfristigen Zinsen umschichten, während ein anderer eine zusätzliche Sicherheit für ein von Merrill Lynch arrangiertes Darlehen für ein Haus wollte - wegen des starken Marktniedergangs. Und einer fragte sogar nach denAuswirkungen des Terroranschlags auf die Anleihen der Hafen-Behörde von New York, die den World Trade Center-Komplex gebaut und betrieben haben. Weil Parisi der Ansicht ist, dass in erster Linie die richtige Depotstruktur den Ertrag bestimmt, rät er gewöhnlich nur zu Änderungen, wenn große Marktveränderungen zu einer Übergewichtung im Depot führen. Da Anleihen in letzter Zeit besser als Aktien abgeschnitten haben - einige kurzfristige Zinssätze sind auf ein 40-Jahres-Tief gefallen - wird er vielleicht die Gelder einiger Kunden erst im nächsten Jahr aus den Anleihen in Aktien umschichten. In den Tagen nach der Katastrophe wollten viele Kunden einfach sichergehen, dass er und seine Mitarbeiter wohlauf waren, sagt Parisi. Er versicherte ihnen, dass er nicht in Gefahr war, weil er zum Zeitpunkt der Terrorangriffe seinen ältesten Sohn zur Vorschule gebracht habe. "Wir sind hier. Und in Betrieb", sagt er ihnen. "Kann ich etwas für Sie tun?" Jetzt wollen auch viele Kunden wissen, was er bei Telefonaten mit Händlern an der Wall Street erfährt. Er habe gehört, dass sich institutionelle Anleger zurückgehalten hätten und dass Verkaufsorder von Privatanlegern das Börsengeschehen beherrscht hätten, berichtet dann Parisi. "Die meisten Leute, die angerufen haben, weil sie Aktien kaufen wollten, haben sich nicht wieder gemeldet." Die Angst überwiegt die Gier. Judith Della Vecchia, um nur eine Kundin von Parisi zu nennen, scheint erleichtert zu sein, dass sie mit ihrem Ehemann nicht jene Aktien-Indexfonds gekauft hat. Sie habe das Börsengeschehen am Mittwoch am Fernseher verfolgt, aber das Gerät dann schnell abgeschaltet, als das Börsenbarometer um weitere 200 Punkte gefallen sei.

Randall Smith

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false