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Börsenchaos: Das große Marktgeschrei

Die Börse in New York erlebt dramatische Stunden. Und die Angst schwappt über auf alle Kontinente. Denn jeder weiß: Wenn Amerika niest, bekommt die ganze Welt die Grippe.

Donnerstagabend an der Wall Street. Die Stimmung auf dem Parkett der New Yorker Börse erinnert ein wenig an die „Titanic“. DJ Caleb Loftus dreht die Platten, es gibt Häppchen und eine Martini-Bar. Auf den hellen Planken tanzen einige „Young Professionals“, und über den schwatzenden Köpfen laufen die unendlichen Tickerbänder der Finanzmärkte. Sie zeigen den Dow Jones mit einem Minus von 513 Punkten, dem tiefsten Sturz seit zwei Jahren.

Dass der Donnerstag nicht der letzte Ausverkauf war in einer nun schon zehn Tage dauernden Verluststrecke, ahnt man. Gefeiert wird trotzdem. Schließlich geht es um einen guten Zweck: Die jungen Manager haben für die Börsenparty 100 Dollar pro Kopf bezahlt und unterstützen damit eine Autismus-Stiftung.

Zehn Stunden später ist Dennis Naso gar nicht zum Feiern zumute. Der 62-jährige Trader, der seit 35 Jahren auf dem New Yorker Parkett steht, befürchtet das Schlimmste. „Was wir am Donnerstag erlebt haben, erinnert mich an den großen Crash von 1987“, sagt er. Genauer gesagt, an den Tag vorher. „Da waren die Kurse im freien Fall. Am Nachmittag, kurz vor Handelsschluss, sind wir dann selbst eingestiegen, die Händler. Haben gekauft, was zu kaufen war. Viele haben geglaubt, sie machen das Geschäft ihres Lebens. Bekämen Aktien so günstig wie nie. Und dann kam am Montag der Crash.“

Viele Händler verloren Millionen. Das ist fast ein Vierteljahrhundert her. Manche, die damals dabei waren, sind heute noch auf dem Parkett. Sie haben Höhenflüge und Abstürze überlebt, Bullen- und Bärenmärkte, Pleiten, Pech und Pannen, zuletzt auch die große Entlassungswelle an der Wall Street. Sie haben aus dem letzten großen Crash gelernt, die Lektionen von 1987 nicht vergessen. Nach den jüngsten Kursstürzen trauen auch sie sich nicht mehr in den Markt. „Greife nie in ein fallendes Messer“, ist eine alte Börsenregel, und in diesen Tagen der Panik an den Finanzmärkten streckt keiner die Hand heraus.

Die Prognosen sind düster. „Wenn wir uns am Freitag ein wenig stabilisieren können, wenn wir um 100 oder 150 Punkte zulegen, dann können wir den Donnerstag vielleicht als einen einzigen, bitteren Tag abhaken“, meint Trader Naso. „Wenn es am Freitag aber wieder runtergeht, dann könnten wir nach dem Wochenende einen Crash sehen.“

Der Freitag als Tag der Entscheidung, das ist grundsätzlich schlecht. In Krisenzeiten hat es die Wall Street immer schwer, sich zum Wochenende hin zu erholen, denn die Anleger wollen über die freien Tage keine Positionen halten. Sie wissen ja nicht, was bis Montag passiert. Das Risiko ist zu hoch. Am Freitag wird gerne verkauft.

Doch dann die Überraschung vor Handelsbeginn. Der Arbeitsmarktbericht für Juli, den man in der aktuellen Krisenstimmung katastrophal schwach erwartet hatte, fällt viel besser aus als in den Vormonaten. Das Arbeitsministerium in Washington brichtet von 117 000 neuen Jobs. Allein der Privatsektor hat 150 000 neue Stellen geschaffen – fast doppelt so viel wie im Vormonat. Die Arbeitslosenquote fällt von 9,2 auf 9,1 Prozent. Auf dem Parkett bricht Jubel aus. Wie lange der anhält, sollte sich erst im Handelsverlauf zeigen.

Denn wer hinter die Kulissen schaut und die Zahlen analysiert, der weiß, dass die Freude über den Arbeitsmarktbericht für Juli nur oberflächlich sein kann. Die USA haben zwischen Januar 2008 und Februar 2010 fast neun Millionen Jobs verloren. Seither geht es zwar wieder aufwärts, allerdings viel zu langsam, um auch nur den Bevölkerungszuwachs auszugleichen. Von Wachstum ganz zu schweigen.

Nun also 150 000 neue Stellen im Juli. Der Wall Street verschaffte das erst einmal Erleichterung, doch ein nachhaltiger Befreiungsschlag war der Job-Report nicht. Die Krise an den Börsen hält an, eine Krise übrigens, die man sich selbst aufgehalst hat. Denn Amerikas Probleme sind hausgemacht. Auf dem Parkett versucht zwar der ein oder andere, Europa die Schuld zu geben. Die Krise in Griechenland und Italien verunsichere die globalen Märkte, heißt es. „Da zeichnet sich eine Liquiditätskrise ab, die nach Amerika schwappen könnte“, sagt Dan Christman, Trader für Ridge Clearing, in seinem kleinen Kabuff voller Kabel und Telefone. Da ist durchaus etwas dran, doch wiegeln selbst die Reporter des amerikanischen Börsensenders CNBC ab, die sonst die ewigen Cheerleader für die US-Märkte sind. „Darüber kann man ja nur lachen“, sagt Michelle Caruso-Cabrera in der Mittagssendung „Power Lunch“. „Griechenland ist wirtschaftlich so groß wie Delaware. Was soll denn das für Auswirkungen haben?“

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Und tatsächlich: Griechenland und Italien sind zwar ernstzunehmende Krisenherde, doch belasten sie vor allem die Euro-Zone. Amerika bekommt das aufgrund des globalen Handels und der Währungsschwankungen mit, doch die Verhältnisse sind klar: Wenn Amerika niest, bekommt die ganze Welt die Grippe – nicht andersrum.

In Wahrheit leidet die Wall Street unter dem Schuldenkompromiss, den die Regierung in Washington vor wenigen Tagen unterzeichnet hat. Den hat man auf Drängen der Republikaner, und indirekt auf Druck von Corporate America, extrem einseitig gestaltet und ausschließlich an einen drastischen Sparkurs für die Regierung geknüpft. Die Alternative, nämlich Steuern zu erhöhen, wollte die Opposition nicht akzeptieren. Gängiges Argument, das auch die Wall Street unterschrieben hatte: Die Angst vor höheren Steuern habe amerikanische Unternehmen zuletzt davon abgehalten, zu expandieren und neue Stellen zu schaffen. Zunächst gelte es, hier für Klarheit zu sorgen und einen Niedrigsteuerkurs der Regierung festzuschreiben und bekannt zu geben.

Wenige Tage nach der Entscheidung zeigt sich: Die Forderung nach niedrigen Steuern war nicht mehr als die Gier der Unternehmen und Großverdiener, die sich schon seit den Bush-Jahren an der Finanzierung des amerikanischen Traums kaum mehr beteiligen. Tatsächlich war es nie die Angst vor höheren Steuern, die Corporate America gebremst hat, sondern der Mangel an Güter- und Leistungsnachfrage. In einem Umfeld mit hoher Arbeitslosigkeit, schrumpfenden Löhnen und angesichts der Tatsache, dass Millionen von Amerikanern in der Finanzkrise einen großen Teil ihrer Rentenrücklagen und viele sogar ihr Haus verloren haben, sind die Verbraucherausgaben massiv eingebrochen. Der letzte große Kunde am Markt war die Regierung.

Die hätte die Konjunktur wohl auch retten können. So wie man tatkräftig die Automobilindustrie aus der Krise führte – GM macht zwei Jahre nach der Pleite schon wieder Millionen-Gewinne –, hätte ein 800 Milliarden Dollar schweres Stimuluspaket im letzten Jahr andere Branchen unterstützen sollen. Allein, der größte Teil des Pakets floss, ebenfalls auf Drängen der Republikaner, in Steuerentlastungen.

Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman prangert das seit Monaten in seiner regelmäßigen Kolumne in der „New York Times“ an: „Das Stimulus-Paket war zu klein“, sagt er. „Außerdem hätte es komplett in Investitionen, vor allem in Infrastruktur fließen sollen.“ Da hätte die Regierung in großem Stil neue Jobs geschaffen, stattdessen versandete die staatliche Hilfe in den Kassen der Unternehmen.

Die Börse spiegelt nun wider, was immer mehr Amerikanern auffällt: Wenn sich die Regierung als letzter Käufer von Waren und Dienstleistungen verabschiedet, kann das die Wirtschaft nur in eine Richtung führen: nach unten.

Dass viele US-Unternehmen in den letzten Jahren wieder massiv produziert haben, ändert nichts, denn seit zwanzig Monaten steigen die Lagerbestände in Corporate America – man arbeitet auf Halde. Langfristig führt das zu weiteren Entlassungen, was wiederum erklärt, warum die positive Reaktion des Marktes auf den Arbeitsmarktbericht am Freitagmorgen nur kurz anhielt. Nach einem frühen Plus von 130 Punkten rutschten die wichtigsten Werte schon nach einer halben Stunde ins Minus – danach war der Marktausgang offen.

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