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Ungleich verteilt. Der Aufschwung Indiens konzentriert sich auf wenige Branchen und Regionen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als zwei Dollar pro Tag.

© REUTERS

Boom in Indien: Klinkenputzen in Delhi

Staatsgäste und Konzerne werben um die Gunst des Boomlandes Indien. An der Masse der Armen geht das Wirtschaftswunder vorbei.

Die Regierungschefs dieser Welt gaben sich in Neu Delhi die Klinke in die Hand. Bei ihren Staatsbesuchen in der 16-Millionen-Einwohner-Hauptstadt Indiens überboten sie sich im vergangenen Jahr mit Lobgesängen auf die aufstrebende Wirtschaftsmacht. Den Anfang machte der britische Regierungschef David Cameron, dann folgten Schlag auf Schlag US- Präsident Barack Obama, sein französischer Kollege Nicolas Sarkozy, Chinas Premier Wen Jiabao und Russlands Präsident Dmitri Medwedew. Auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel will 2011 nach Delhi pilgern.

Die neue Indien-Lust der Mächtigen ist allerdings ganz profanen, ökonomischen Interessen geschuldet. Die Industrieländer suchen verzweifelt nach neuen Absatzmärkten, um ihre lahmenden Wirtschaften anzukurbeln. Während die USA noch mit den Nachwehen der Finanzkrise kämpfen und Europa sich mit seinen Währungssündern herumärgert, hat Indien den globalen Wirtschaftssturm erstaunlich gut überstanden und sich rasant erholt.

Der Subkontinent glänzt bereits wieder mit Zuwachsraten, von denen der Westen nur träumen kann. In der ersten Hälfte des laufenden Finanzjahres 2010/11 (bis 31. März) wuchs die Wirtschaft um 8,9 Prozent. Und inzwischen revidieren Analysten ihre Prognosen für 2011 sogar nach oben. „Wir sind zuversichtlich, dass unsere Wirtschaft dieses Finanzjahr um fast neun Prozent wachsen wird“, frohlockt Indiens Präsidentin Pratibha Patil. „2011 sollten wir auf einem nachhaltigen Wachstumspfad von neun bis zehn Prozent sein.“

Das macht Indien attraktiv. Und das Gandhi-Land ist sich seiner neuen Hauptrolle bewusst. Zwar steht Indiens Wirtschaftskraft der chinesischen weit hinterher, aber niemand kann mehr die Rechnung ohne die Inder machen. Zum einen ist das Land mit 1,2 Milliarden Einwohnern nach China der größte Zukunftsmarkt der Welt. Zum anderen plant Delhi riesige Infrastruktur-Projekte und Rüstungskäufe. Fast demütig klopft der Westen an, weil er am Boom teilhaben will. „Das Signal ist klar: Es geht ums Geschäft“, sagt Rajiv Sikri, früherer Sekretär im Außenministerium, nüchtern.

So wurde denn zuletzt auch jeder illustre Staatsgast mit kleineren oder größeren Gaben bedacht. US-Präsident Obama konnte bei seiner rund dreitägigen Visite Abkommen im Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar signieren, die, wie er jubelte, „mehr als 50 000 Jobs“ in den USA schaffen würden. Chinas Premier Wen Jiabao unterzeichnete Verträge im Wert von16 Milliarden Dollar. Und Dmitri Medwedew sahnte den Zuschlag für den Bau von 18 Atommeilern und 250 bis 300 Kampfjets im Wert von geschätzten 30 Milliarden Dollar ab.

Zwar ist China mit Abstand größter Handelspartner Indiens. Das Handelsvolumen liegt nun bei 60 Milliarden Dollar, wobei allerdings die Bilanz für Indien negativ ist. Doch ein „Chindia“, also eine verbündete Wirtschaftsmacht China-Indien, ist bisher nicht mehr als eine westliche Angstfantasie. Das Misstrauen zwischen den beiden asiatischen Giganten ist viel zu tief verwurzelt, als dass sie sich gegen den Westen verbinden würden. Zumal Peking als enger Verbündeter von Indiens Erzrivalen Pakistan gilt.

Delhi hegt und pflegt weiter die alten Bande zu Moskau, das ein enger Partner ist und den indischen Rüstungsmarkt beherrscht. Allerdings hat sich das Land inzwischen auch den USA geöffnet. Washington möchte Indien als wirtschaftliches und politisches Gegengewicht zu China aufbauen. Auch Europa würde gerne stärker ins Geschäft kommen und strebt ein Freihandelsabkommen an.

Heute reißt sich die Welt um Indien, doch das sah vor 20 Jahren noch ganz anders aus. Damals hatte Indien seine Märkte weitgehend abgeschottet. Nur drei Automodelle kurvten durch die Städte, die Warenwelt war sozialistisch übersichtlich und allenfalls ein paar Hippies und Indien-Liebhaber verirrten sich ins Land der heiligen Kühe. Heute sind die Straßen von Delhi derart überfüllt, dass man zu den Stoßzeiten bestenfalls im Kriechtempo vorwärtskommt. Riesige Shoppingcenter zeugen von der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung, und zum Schrecken des Westens kaufen indische Konzerne inzwischen in der ganzen Welt Unternehmen auf. Als Vater des Wirtschaftswunders gilt Regierungschef Manmohan Singh. Der Ökonom hatte 1991 als damaliger Finanzminister Indiens Märkte schrittweise geöffnet.

Aber die Lobeshymnen verstellen den Blick darauf, dass die Atommacht weiter auch das Armenhaus dieser Welt ist. Kühl diagnostiziert das Auswärtige Amt in seinem Länderbericht: „Ungeachtet dieses beeindruckenden Wachstums bleibt Indien mit einem durchschnittlichen jährlichen Prokopfeinkommen von nur 911 Dollar und enormen Defiziten in der sozialen Infrastruktur weiterhin ein Entwicklungsland.“ Die Erfolgsstory beschränkt sich auf wenige Bundesstaaten und Branchen und wird vor allem vom Dienstleistungssektor gespeist: Dieser macht über 57 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, umfasst aber nur 25 Prozent der Bevölkerung. Dagegen siecht der Agrarsektor dahin. Er trägt nur noch 20 Prozent zum BIP bei, muss aber 70 Prozent aller Inder ernähren.

Zu Indiens größten Wachstumsbremsen zählen die chronische Korruption und die marode Infrastruktur. Seit 1948 habe Indien 462 Milliarden Dollar durch Korruption verloren, errechnete der US-Think-Tank Global Financial Integrity. Und Besserung lässt auf sich warten, glaubt man dem jüngsten Korruptionsbericht von Transparency International. Danach sank Indien sogar noch weiter ab – um drei Ränge auf Platz 87. Als besonders korrupt gelten die politischen Parteien, gefolgt von der Polizei. Auch die Infrastruktur bleibt ein Sorgenkind. Ob Straßen-, Schienen- oder Stromnetz – alles hinkt hinter dem Bedarf hinterher.

Der Aufschwung geht bisher an der Masse der Armen vorbei und hat auch kaum in größerem Umfang neue Jobs geschaffen. Zwar beheimatet Indien die meisten Millionäre und Milliardäre dieser Welt, aber auch mehr Arme als Afrika. Millionen Inder hungern. Daran hat auch die von der Kongresspartei geführte Koalitionsregierung wenig geändert, obgleich sie mit dem Ziel antrat, die Massenarmut zu bekämpfen. Trotz Aufschwungs rutschte Indien sogar auf dem Armutsindex des International Food Policy Research Instituts um zwei Plätze auf den 67. Rang. 28 Prozent der Inder leben unterhalb der Armutsgrenze von einem Dollar am Tag und mehr als die Hälfte von weniger als zwei Dollar.

Der indische Nobelpreisträger und Ökonom Amartya Sen zeigt sich denn auch wenig angetan von der bisherigen Bilanz. Es sei „dumm“, zweistelliges Wachstum anzustreben ohne die chronische Unterernährung von Abermillionen Indern zu bekämpfen, rügte er sein Heimatland.

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