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Ein Börsenhändler steht morgens im Handelssaal der Börse vor seinen Monitoren, nachdem die Briten für einen EU-Austritt gestimmt haben.

© dpa

Brexit-Referendum: Wie groß der Schock in Frankfurt war

Wenig deutet an diesem Morgen auf einen dramatischen Tag hin. Dann wird klar: Es wird vielleicht der schwärzeste Tag an der Frankfurter Börse.

Wenig deutet an diesem Morgen auf einen dramatischen Tag hin. Kurz vor acht sind im Bankenviertel kaum Anzugträger auf dem Weg in die Banktürme, vor der Frankfurter Börse bauen Marktbetreiber in aller Ruhe ihre Stände auf. Es ist schon jetzt heiß. Drinnen im Börsensaal, auf dem Parkett mit den weißen runden Händlertheken, ist es kühl – und trotzdem hitzig. Die Börsianer stehen unter Schock. „Als ich heute morgen um sechs aufgestanden bin, habe ich meinen Ohren nicht getraut. Brexit - so schnell wie heute war ich selten an meinen Platz in der Börse“, sagt Oliver Roth vom Handelshaus Oddo Seydler.

Die Kurstafel ist noch leer. Nur rechts oben wird klar, dass es ein schwarzer, vielleicht der schwärzeste Tag an der Frankfurter Börse, werden wird. 9169 steht da kurz vor halb neun. Die Zahl zeigt den vorbörslich errechneten Dax – den Deutschen Aktienindex, der die Kurse der 30 wichtigsten deutschen Aktien widerspiegelt. Am Tag zuvor waren es 10257. Ein Absturz um zehn Prozent droht. Der alte Rekord datiert vom 16. Oktober 1989. Da waren es minus 12,8 Prozent.

„Das ist ein Desaster für die Finanzmärkte und eine Katastrophe für Europa“, sagt Roth. Sein Kollege Carsten Sommerfeld vom Handelshaus Tradegate schrägt gegenüber nickt. „Das ist ein ganz schwarzer Tag für Europa. Der Markt ist voll auf dem falschen Fuß erwischt worden“. Andere drücken sich weniger wählerisch aus. „Sch...“, sagt Robert Halver vom Bankhaus Baader.

Von einem „Blutbad“ ist die Rede

Kamerateams und Fotografen tummeln sich auf dem Parkett. Der Fernseh-Reporter von Focus TV schwenkt ein britisches Fähnlein. Michael Heise, Chef-Volkswirt der Allianz oder Kollege David Kohl vom Bankhaus Julius Bär werden vor fast jedes Mikrofon gezerrt. Und immer äußern sie ihr Entsetzen über das unerwartete Desaster. Um kurz nach 9 Uhr ist es Tatsache. 9237 lautet der erste Dax-Wert an diesem historischen Tag. Tatsächlich: Ein Minus von zehn Prozent.

Die Umlaufrendite von Bundesanleihen rutscht auf den das historische Tief von minus 1,25 Prozent, der Euro verliert gegenüber dem Dollar fast drei Prozent, das Pfund sackt gegenüber der US-Währung auf den tiefsten Stand seit mehr als 30 Jahren, der Goldpreis schießt um sechs Prozent nach oben. Von einem „Blutbad“ ist die Rede. „Unsere Kunden haben den Finger nur auf der Verkaufstaste“.

Besonders hart erwischt es die Aktie der Deutschen Bank. Um mehr als 20 Prozent rauscht der Kurs nach unten. Für Vorstandschef John Cryan ist in diesem Moment weniger wichtig. „Das ist kein guter Tag für Europa. Die Konsequenzen werden für alle Seiten negativ sein“. Er sei Brite und Europäer und überzeugter Anhänger der europäischen Idee, fügt Cryan hinzu. Ihn schmerze die Entscheidung seiner Landsleute besonders.

Kaum eine Aktie ist vom Desaster ausgenommen, auch wenn sich die Lage im Tagesverlauf etwas beruhigt, der Dax „nur“ noch sieben Prozent verliert. Fast kein Papier kommt mit einem Minus von weniger als vier Prozent davon, oft sind es acht oder mehr als neun. „Die Finanzmärkte werden erst mal weiter durchgerüttelt“, ist sich Roth sicher. Für Wochen, vielleicht für Monate. „Die Börse wird sich austoben“, sagt Halver.

Fusion mit der LSE auf der Kippe?

Heftig erwischt es auch die Aktie der Deutschen Börse. Steht jetzt die geplante Fusion mit der Börse in London auf der Kippe? Börsen-Chef Carsten Kengeter winkt in einem gemeinsamen Statement mit seinem Kollegen in London ab. Die Fusion hänge nicht vom Ausgang des Referendums ab, sie werde jetzt sogar noch wichtiger. In die Mikrofone sagt das Kengeter allerdings nicht. Börsianer sind sich nicht so sicher, ob der Sitz der neuen Obergesellschaft jetzt tatsächlich an der Themse sein kann. „Das geht jetzt nicht mehr“, sagt einer. „Warum nicht“, ein anderer. Frankfurt werde in jedem Fall profieren, sind sich Halver und Roth einig. Möglicherweise auch die Börse.

„Frankfurt wird einer der Gewinner sein. Erst einmal gibt es einen starken Zulauf“, glaubt Roth. „Alle, die jetzt in Frankfurt neue Türme bauen, sind clevere Jungs“, sagt der Chef einer Immobilienfondsgesellschaft. „Die Preise werden steigen, möglicherweise bis 25 Prozent“. Auch bei den Mieten dürfte es nach oben gehen. Dass Frankfurt die Europische Zentralbank (EZB) und die europische Bankenaufsicht beherbergt gilt als klares Plus gegenber Paris.

Nicht nur Sorgen wegen der Kurse

Aber die Börsianer und Händler schauen an diesem Tagen nicht nur auf die Kurse. Sie sorgen sich auch um die Zukunft Europas, fürchten die Stärkung rechtspopulistischer Strömungen in anderen EU-Staaten. „Das ist eine Zerreißprobe für Europa und für die EU“. Sorgenfalten zeigen sich auf der Stirn von Oliver Roth. „Der Brexit sorgt für politische Unruhe wie wir sie noch nie hatten“, fürchtet Halver.

Draußen vor der Börse sind die Marktstände mittlerweile längst aufgebaut. Auch der von Gisela Paul. Seit 20 Jahren steht sie zwei Mal in der Woche auf dem Platz. Börsen-Händler und Banker kommen in der Mittagspause zu ihr. Schließlich gibt es hier die beste „Grie Soss“, das Frankfurter Nationalgericht. „Eine Katastrophe“, erregt sich Paul. „Wirtschaftlich und politisch“. Sie ist sich mit den Händlern drinnen im Saal einig wie selten zuvor. Mittelfristig könnte der Brexit und der Zulauf nach Frankfurt auch ihr Geschäft beleben. Das ist für Paul nebensächlich. Heute muss sie ohnehin auf ihre Kunden aus der Börse verzichten. Die haben am schwärzesten Handelstag des Jahres keine Zeit für die „Grie Soss“.

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