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Wirtschaft: Christian Chruxin

(Geb. 1937)||Seine Prinzipien waren fest. Umso lockerer sein Umgang mit der Typografie.

Seine Prinzipien waren fest. Umso lockerer sein Umgang mit der Typografie. Buchstaben sind dazu verdammt, auf gerader Linie antretend, dem Leser das Lesen zu ermöglichen. Man darf sie mal ein wenig schräg stellen, scharfe Kanten rund schleifen oder Häkchen dranhängen. Aber völlig aus der Art schlagen dürfen sie nicht. Für Buchstaben, die keiner mehr lesen kann, interessieren sich nur wenige Menschen, einer von ihnen war Christian Chruxin.

„Jeder möchte die Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder der Vögel zu verstehen?“ – Das hat Pablo Picasso gesagt, und Christian Chruxin zitierte ihn, wenn wieder jemand kopfschüttelnd vor einem ungerahmten Wirrwarr aus Strichen und Farbklecksen stand. Es gab Menschen, die auch seine Kunst für artifiziellen Schabernack hielten. Einige Chruxin-Gegner korrigierten ihr Urteil nach etlichen Jahren. Seinem Werk wurde sogar ein Lexikonartikel zuteil, die antibibliophile, experimentelle Typografie Chruxins zu einer wichtigen Kunstströmung des 20. Jahrhunderts geadelt. Das hat den Grafiker und Plakatkünstler, den Buchstabenbefreier und Kataloggestalter doch mächtig gefreut.

„Mein Designvorschlag zum Osterfest: Alle braunen Eier weiß färben.“

Angefangen hatte das Dekonstruieren von Buchstabenreihen auf den dünnen Bändchen des „Fietkau“-Verlages. Das war Anfang der sechziger Jahre. Christian Chruxin, noch Grafik-Student, setzt Autor, Titel und Fließtext des Buches in die gleiche, fortlaufende Schriftform, ignoriert die Trennungsregeln, lässt Buchstaben ineinander fließen, überblendet Wortfolgen bis zur Unkenntlichkeit. An manchen Stellen bleibt nur noch das Wesentliche der Schrift übrig, der Schwarz-Weiß-Kontrast.

Auf Plakaten für das Berliner „Haus am Waldsee“ spiegelt er die Wörter, zertrennt Wortfragmente in konzentrische Drehscheiben. Chruxin zertrümmert die alte Buchstabenordnung und schafft gleichzeitig eine neue. Er steht nicht nur künstlerisch in Opposition zu überkommenen Dogmen, ist aber kein Anarchist.

Für die Zeitgenossen ist die typografische Gegenwelt nicht unbedingt als Kunst erkennbar. Da erging es Chruxin nicht anders als Beuys. Die Waldsee-Plakate suchte ihr Schöpfer zunächst vergeblich an den vorgesehenen Anschlagstellen. Auf seine Nachfrage folgte eine Gegenfrage: „Haben Sie schon die völlig verdrehten Plakate gesehen?“ Klarer Fall von Druckerpfusch.

In Kassel, als Student an der Kunstschule, eröffnet Chruxin 1959 eine Galerie. Die erste Ausstellung wird vom Direktor verboten. Der Verkannte wechselt nach Berlin und darf nach Vorlage seiner Arbeitsmappe zwei Semester überspringen. In einer alten Bäckerei richtet er die Galerie „situationen 60“ ein, erinnert an vergessene Avantgardisten und prägt den Begriff „Visuelle Poesie“, Texte zum Sehen. Die Galerie schlägt hohe Wellen – künstlerisch – und macht ebenso hohe Verluste. Nach wenigen Jahren wird sie geschlossen.

Christian Chruxin entwirft die Reihe „das neue buch“ für den Rowohlt-Verlag und beginnt, fürs Fernsehen zu arbeiten. Er entwirft Szenenbilder und Kostüme für Literaturverfilmungen des ZDF, arbeitet an der ersten Farbaufzeichnung von Radio Bremen mit und entwirft die Studioarchitektur für den beat-club.

Sein TV-Gesamtkunstwerk wird die ARD-Unterhaltungssendung „Stellen Sie sich vor“, die er vom Konzept bis zur Regie selbst betreut. In der Sendung treffen jeweils zwei gleichaltrige Paare aufeinander, die sich nicht kennen. Gemeinsam sollen sie versuchen, persönliche Wünsche zu realisieren. „Wir wollten die Scheinwelt zeigen, gleichzeitig aber auch die Tricks aufschlüsseln, die diese Illusion erzeugen, im Wechselspiel von Information und Unterhaltung.“ Das Pantoffelkino als sozialpsychologischer Experimentierraum. Nach einer Folge wird „Stellen Sie sich vor“ abgesetzt.

Vielleicht hätte man das Konzept hier und da etwas gefügiger, quotenträchtiger machen können, aber Christian Chruxin war ein Mann fester Prinzipien. War der Auftraggeber unzufrieden, fehlte ihm das rechte Verständnis und die Gabe der Offenheit. Da brauchte es keine Verhandlungen, sondern Beharrlichkeit und Langmut. In seinem Atelier, diesem Ort ästhetischer Askese, angefüllt mit unbestimmbaren Gegenständen und Bergen von Papier, genossen nur die Katzen ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht.

Die fünf Treppen zur Dachwohnung, die er sich mit seiner Frau teilte, die Spaziergänge durch sein Viertel meisterte der Antisportler Chruxin immer wie beiläufig, eine bloße Fußnote des Alltags. Die Krankheit, Lungenkrebs, zwang dem geistig Rastlosen die gewaltige Last seines geschwächten Körpers auf. Der Tod kam in der Rolle des Erlösers.

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