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Wirtschaft: Christian Gross

(Geb. 1959)||Er träumte von Bayreuth. Aber das Theater ließ ihm keine Zeit.

Er träumte von Bayreuth. Aber das Theater ließ ihm keine Zeit. Ein Theater ist eine Miniaturgesellschaft in der Gesellschaft, auf ähnliche Weise organisiert, von oben nach unten. Ein kleines Theater ist eine etwas offenere Gesellschaft, weniger hierarchisch geordnet, eher an eine Großfamilie als an einen Staatsapparat erinnernd. Denn in einem kleinen Theater müssen sich alle um alles kümmern. Mehr oder weniger. Spezialisierung ist nicht gefragt. Ein Techniker in einem kleinen Theater muss vielseitig ausgebildet sein: Er muss Bühnenbilder und -bauten entwerfen und konstruieren, er muss die technischen Abläufe auf der Bühne planen, sich um die Beleuchtung kümmern, tischlern, malern. Und er muss Verständnis für „das Künstlerische“ aufbringen.

Christian Gross war genau der Richtige für so etwas. 1990 holte ihn der Intendant des Renaissance -Theaters in das Haus an der Hardenbergstraße.

Ursprünglich hatte er Dekorateur gelernt. Er kannte sich mit den verschiedensten Materialien aus, konnte Vorhänge nähen, Stühle polstern, tapezieren. Doch er war überzeugt, für die Arbeit am Theater müsse man mehr wissen, müsse eine Vorstellung von Linien und Räumen und künstlerischer Gestaltung in einem umfassenderen Sinne haben. Also hing er einige Semester Architekturstudium an seine Lehre an.

Das Renaissance-Theater gab ihm die Möglichkeit zu zeigen, was ein gelungenes Bühnenbild ausmacht, wie es ein Stück wirkungsvoll umrahmt. In „Kunst“ von Yasmina Reza sah man seine Handschrift am deutlichsten. Nicht von ungefähr. Denn die Autorin behandelt ein Thema, das Christian sein Thema nannte: Freundschaft. Die Kollegen sagen: Er war treu. Sehr. Treue bedeutete für ihn jedoch nicht, immerzu und allerorts da zu sein. Selbst wenn er einen Freund über Monate nicht gesprochen hatte, war das Wiedersehen so, als hätten sie erst gestern gemeinsam einen Kaffee getrunken.

Theaterleben heißt, vom Theater verschluckt zu werden. Gastspiele vorbereiten, reisen, Hotelnächte, man arbeitet mit den Theaterleuten, verlässt das Theater mit den Theaterleuten, geht mit den Theaterleuten einen Wein im „Zwiebelfisch“ trinken, spricht dort über das Theater, schimpft dort über das Theater. Private Dinge bleiben unerwähnt. Die Wohnung von Christian kannte kaum jemand. Und kaum jemand wusste, was er dort tat, in seiner Wohnung, nach einem Theatertag.

Er fühlte sich angezogen vom Meer. Und vielleicht hatte auch das mit dem Theater zu tun: Die Werkstatt, die Bühne, dunkle enge Räume – das Meer dagegen scheint unendlich, der Himmel hell.

In den Theaterferien fuhr Christian in die Toscana, in das Haus einer Freundin. Stundenlang konnte er auf der Terrasse sitzen, in die Landschaft schauen, Wagneropern hören und davon träumen, einmal nach Bayreuth zu fahren. Das Theater ließ ihm keine Zeit dazu.

Im Sommer 2005 schloss Christian eine Reiseversicherung vor seiner Italienfahrt ab, niemand weiß, wie er darauf gekommen ist. Dort eingetroffen, ging es ihm plötzlich schlecht, von Tag zu Tag mehr. Er ging zum Arzt, ließ sich untersuchen, erhielt die Diagnose Blutkrebs. Glücklicherweise eine leichte Form. Sein Rücktransport nach Deutschland wurde sofort veranlasst.

Die Therapien schlugen nicht an. Die Krankheit wandelte sich. Aus dem tröstenden Wort leicht wurde schwer, dann hoffnungslos.

Ins Theater konnte er nicht mehr. Die Kollegen sind sich nicht einig darüber, ob er das auch ein wenig genossen hat. Manche sagen sogar, er hätte auf eine Weise erleichtert gewirkt.

Die letzte Zeit im Krankenhaus war immer jemand bei ihm, Tag und Nacht, auch als er starb. Zur Trauerfeier kam das ganze Theater.

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