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Clement trifft Gabriel: 4,5 Kilo für die soziale Marktwirtschaft

Sigmar Gabriel und Wolfgang Clement stellen ein voluminöses Werk vor über Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik: „Was uns stark macht“.

Für ein bisschen Slapstick war die Gastgeberin zuständig. Mit dem viereinhalb Kilo schweren Band auf dem weißblonden Schopf begrüßte Catherine von Fürstenberg-Dussmann am Freitagvormittag im Dussmann-Kulturkaufhaus an der Friedrichstraße die Gäste einer Buchvorstellung. Als der Herausgeber Wolfgang Clement sie um einen Beitrag gebeten habe, dachte Dussmann erst an ein Kochbuch. Nun ja, um Rezepte für das Land, gehe es ja auch in dem von Clement herausgegebenen, großformatigen Band unter dem Titel „Das Deutschland-Prinzip – Was uns stark macht“. Es sei Clements bestes Buch, meinte Dussmann, und appellierte an den lieben Wolfgang, den sie aus dem Stiftungsrat des eigenen Unternehmens kennt, eine Übersetzung ins Englische zu veranlassen. Das sollte finanziell machbar sein.

Aber der Adressat der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die mit einem dreistelligen Millionenbetrag von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird und bei der Clement eine führende Rolle spielt, ist die deutsche Öffentlichkeit. Mit Kampagnen, Veranstaltungen und Publikationen wirbt die Initiative für möglichst staatsfreies Wirtschaften. Auch deshalb war es eine kleine Sensation, dass Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel, dazu Vizekanzler und SPD-Vorsitzender, die Buchvorstellung mit einer kleinen Ansprache aufwertete und also auch noch Werbung machte für den alten Widersacher Clement. Der hatte als Wirtschafts- und Arbeitsminister (2002 bis 2005) maßgeblichen Anteil an der Agenda 2010, die Gabriel in der ersten Halbzeit der laufenden Legislatur mit Unterstützung der CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel hier und da korrigiert hat.

„Herzlichen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, aber du liebst ja überraschende Begegnungen“, begrüßte Clement, der 2008 aus der SPD ausgetreten war, Gabriel. Im Kern des Buches, das Gabriel als „wirklich gut“ lobte, und in dem sich 178 Autoren auf 478 Seiten ausbreiten (Ullstein Buchverlag, 68 Euro), steht Clement zufolge das Thema Erziehung und Bildung. Die Chancengleichheit sei hierzulande „nicht annähernd gewährleistet“, meinte der frühere Spitzenpolitiker. Und dabei „gibt es kein Kind, das ohne Talent auf die Welt kommt.“

Zu den Autoren im Band gehören Politiker und Ökonomen, Kulturschaffende, Unternehmer und Gewerkschafter. Veronica Ferres schreibt zum Thema „Kreativität braucht Freiheit“, Springer-Chef Mathias Döpfner ist dabei („Früh aufstehen, hart arbeiten und Öl in Zeiten der Digitalisierung“), Henry Maske („Bildung allein reicht nicht“) und Erzbischof Rainer Maria Woelki („Es geht um die Menschen“).

Schwerpunktthemen sind die Gründerkultur, Bürokratie und Regulierung – Mindestlohn-Gegner Clement forderte in dem Zusammenhang dazu auf, die Dokumentationspflicht bei der Einhaltung des Mindestlohns aufzuweichen –, Warnungen vor Trägheit in der Wohlstandsgesellschaft, die Rolle des Mittelstands und schließlich Digitalisierung, Demografie Fachkräftemangel und Migration. „Wir hoffen auf den Beginn einer großen Debatte über die Zukunft Deutschlands“, resümierte Clement die Zielsetzung des Buches der INSM.

Wenn er noch als Politiklehrer arbeiten würde, so der Vizekanzler, würde er das Werk der doch gemeinhin als neoliberal abgestempelten INSM im Unterricht anwenden. Weil das Buch „nicht die sonst üblichen Weltuntergangsszenarien“ enthalte. Gabriel ließ sich aber selbstverständlich die Gelegenheit nicht entgehen, ein paar Kritikpunkte aufzugreifen, die von der INSM aber auch von Clement immer wieder gerne angesprochen werden. Zum Beispiel Mindestlohn und prekäre Beschäftigung. „Man kann nicht darüber klagen, dass es zu wenig Kinder gibt, und dann 50 Prozent der jungen Menschen befristete Arbeitsverträge geben.“ Und im Zusammenhang mit der Agenda 2010 („große Leistung“) hätte vor mehr als zehn Jahren schon ein Mindestlohn eingeführt werden sollen, meinte Gabriel. Schließlich „das dumme Gerede von der Rente mit 63“ von Leuten mit hohen Einkommen und hohen Renten oder Pensionen, „die nicht wissen, wie es einem Facharbeiter, einer Verkäuferin oder einer Altenpflegerin nach 45 Versicherungsjahren geht“. Gabriel kam in Form und rief die Anwesenden INSM-Protagonisten und Verbandsvertreter zu „ein bisschen Demut“ auf.

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