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Wirtschaft: Clinton Storm

(Geb. 1953)||Es gibt viel zu viele Wirklichkeiten, um sich auf eine zu beschränken.

Es gibt viel zu viele Wirklichkeiten, um sich auf eine zu beschränken. Ein Amerikaner fährt nach Trier. Er ist Maler. Er will nachsehen, was für ein Land das ist, aus dem der Expressionismus kam. Er ist eingeladen. Er wird eine Ausstellung haben in Trier wie vorher schon in Ohio, New York oder Göteborg. Man kennt ihn. Und die Sommer-Akademie braucht immer Dozenten. Er könnte eine Malschule gründen in Deutschland. Das ist sein Traum.

Das Malen ist eine der letzten vollkommen einsamen Tätigkeiten. Aber jetzt, im Sommer in Trier, ist er nicht allein. Ein Mädchen, zwanzig Jahre jünger als er, sieht ihn an der Leinwand stehen. Sie verliebt sich in ihn. Oder verliebt sie sich in die Art, wie er den Pinsel hält? In die Musikalität seiner Hand? Er hat schöne Hände. Es ist, als ob sie tanzen, wenn er malt. Schon damals konnte Eva (der Name ist geändert) Clinton Storm stundenlang zusehen. Das wird bis zuletzt so bleiben.

Clinton Storm fährt nicht zurück nach Amerika. Wovon er lebt? Von der Farbe natürlich, wie jeder Maler. Er erforscht schon lange, wie viele Rots in die Farbe Rot passen. Seine Bilder sind die Forschungsberichte. Schwer zu sagen, wann Eva und er zum ersten Mal merken, dass die Farben zum Leben nicht ganz genügen. Sie bekommt einen Studienplatz in Berlin. Vielleicht verliert er sie da zum ersten Mal, fast unmerklich. An eine Hochschule! Als ob sie nicht alles, was sie braucht, von ihm lernen könnte. Er ist ihre Hochschule. Sie ziehen nach Prenzlauer Berg, da ist es Anfang der Neunziger noch billig. Und das feuchte Warenlager eines verlassenen Spielzeugladens in einem Hinterhof der Erich-Weinert- Straße ist besonders billig. Sie bauen eine Kohleheizung ein, das passt. Ein richtiges Atelier, wenn auch etwas dunkel. Der wahre Maler trägt das Licht innen.

Ein Amerikaner in der Erich-Weinert- Straße. Sie sind ganz eng zusammen, das geht gar nicht anders. Das Atelier ist zugleich die Wohnung. Es gibt keine Tür, die man vor dem anderen zumachen könnte.

Clinton Storm lernt nicht Deutsch. Es lohnt sich nicht. Mit wem soll ein Maler schon reden? Mit seinen inneren Stimmen spricht er Englisch. Eva spricht auch Englisch. Sie hat als Kind lange in Amerika gelebt; ihr Vater hatte Arbeit dort.

Clinton Storm malt im leeren Spielzeuglager; eine Galerie nimmt ihn unter Vertrag. Eine gute Adresse. Malen im Osten, verkaufen im Westen! Aber seine Galerie zeigt ihn bald nicht mehr auf den großen Kunstausstellungen, etwa bei der „Art Cologne“. „Clinton, you don’t sell!“ Es schlägt ihn nicht nieder. Der wahre Künstler hat die Pflicht, unverkäuflich zu sein. Jedenfalls tendenziell.

Er trinkt ein Glas mehr, mag sein. Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau? hatte Barnett Newman einst gefragt, Amerikaner, abstrakter Expressionist wie er. Clinton Storm hat keine Angst. Er verfolgt noch immer das Rot durch die vielen Rots, er findet das Blau in den vielen Blaus. Fast monochromatisch, sehr geometrisch malt er, mehrere Schichten übereinander; manche seine Bilder scheinen von hinten zu leuchten. Wie Hinterglasmalerei. Und wer genau hinschaut, erkennt alle Farben in einer. Er mag große Flächen, der Himmel über uns ist auch eine große Fläche, kein Taschenformat. Und er wäre bestimmt auch geometrisch, wenn er einen ordentlichen Rahmen hätte. Die abstrakte Malerei ist tot? Aber er, Clinton Storm, lebt doch noch. Und es gibt viel zu viele Wirklichkeiten, um sich auf eine, die wirkliche, zu beschränken. Wer glaubt, man könne es sich aussuchen, ob man Maler wird oder nicht, ist ein Idiot. Die Malerei sucht dich aus, so ist das.

Schon in Trier hat er mal einen Vortrag über seine Malerei gehalten, weit über zehn Seiten eng bedrucktes Papier: „Painting and it’s Discontents. A Lecture“. Der Vortrag begann: „Tonight, I would like to talk about why I paint, why I paint abstractly, why I have painted for twenty years, and why I will paint for the rest of my life.“ Er hält immer noch Vorträge, jetzt an der Volkshochschule. Er hat einen Malkurs dort. Er hält den Kurs in Englisch, aber das stört keinen. Eva übersetzt. Der Meister und sein Medium. Er ist ein guter Lehrer. Er lehrt die anderen sehen.

Eva macht seltsame Sachen. Sie will Sicherungen in ihr Leben einbauen, studiert Malerei auf Lehramt. Und sie arbeitet für ein amerikanisches Kulturinstitut in Berlin. Entwirft Eventkalender. Er mag die Welt nicht, die Eventkalender hervorbringt. Was hat er zu tun mit dem abgeleiteten Universum abgeleiteter Gesellschaftsmenschen? Der wahre Künstler hat die Pflicht, einsam zu sein. In seinem Spielzeuglager-Atelier im Osten, sprachlos, soweit es die Landessprache angeht, ist er wünschenswert einsam. Erst recht, wenn Eva in ihrem Eventkalender-Institut ist. Wenn er aufhört zu malen, liest er. Er hat immer viel gelesen.

Aber ganz allein ist er doch nicht. Er hat einen Gefährten. Der Alkohol ist ein guter Kunstverstärker. Er sieht das Rot noch röter durch den Alkohol. Und auch das Blau im Rot. Eva stört es, wenn er trinkt. Dann macht er Trink-Pausen, zählt die Tage. Einmal werden es vierzig. Na bitte. Er kann jederzeit aufhören. Also darf er auch jederzeit wieder anfangen, die Welt ist so blass sonst. Sie ist zu nüchtern. Später, als er weiß, dass Eva ihn verlassen wird, wenn er nicht aufhört zu trinken, geht er zu einer Gruppe anonymer Alkoholiker. Die stehen im Kreis und sagen lächerliche Sprüche auf: Ich heiße Clinton und ... Nein, das kann er nicht. Er ist kein Kreis-Steher, er ist ein Einzelner. Er sagt grundsätzlich keine Fremd-Sätze, er sagt nur Sätze, die von ihm sind.

Dann findet er den Chef eines großen Krankenhauses in Berlin, trockener Alkoholiker, ein Eigene-Sätze-Sager und das sogar auf Englisch. Clinton Storm erträgt nun die ausgeblichene Stadt und auch, dass er weniger Farben findet in sich drin. Er geht oft zum Professor. Irgendwann muss der einen Termin absagen. Clinton Storm geht nie wieder hin. Er kehrt zurück zu den blaueren Blaus, zu den röteren Rots.

Im Sommer fährt er mit seinem Volkshochschulkurs nach Italien, nach Torre San Marco, fast schon an der Adria. Sie malen in einem alten Turm, vierundzwanzig Stunden, wenn sie wollen, aber jeden Abend um neun ist Dinnerzeit. Jeden Abend um neun erscheint Clinton Storm im schwarzen Anzug und hat nur so viel getrunken wie er braucht, um nüchtern zu sein. 2001 kommt Eva später nach Torre San Marco. Dann irgendwann ist sie ganz weg. Niemand übersetzt mehr seine Volkshochschulkurse. Das ist auch nicht nötig. Einer hat sich beschwert, Clinton rieche nach Alkohol. Es ist vorbei. Er hat kein eigenes Konto. Alles ging über Evas Konto. Jetzt macht eine Freundin die Überweisungen für ihn. Er hat noch Geld aus Amerika, eine Erbschaft wohl. Die Freundin will ihn überreden, ein eigenes Girokonto zu eröffnen. Er kann sich nicht vorstellen, dass er noch so sehr zu dieser Welt gehören sollte, dass völlig fremde Leute ihm ein Konto geben.

Die Welt ist das Fremde. Hat er das nicht gewusst? Und in Prenzlauer Berg wohnen inzwischen lauter junge Leute. Zu denen passe ich nicht, denkt er und fühlt sich mindestens so vorgestrig wie die alten Frauen, die am Ende der DDR in Prenzlauer Berg wohnten und plötzlich alle verschwunden sind.

Freunde raten ihm, mit Sammlern zu sprechen. Und mit Galeristen. Ist er etwa ein amerikanisches Kulturinstitut? Seine Kunst ist nicht aus Smalltalk gemacht, sondern aus Schweigen. Und wer seine Kunst will, wird ihn schon finden. Immer wieder wird er gefunden. In seinem letzten Sommer findet ihn das Museum Hagen und kauft ein Bild von ihm. Es lädt ihn ein nach Hagen. Clinton Storm fällt es schwer, so viel Interesse fremder Menschen standzuhalten.

Irgendwann geht er sogar auf die Bank. Sie geben ihm wirklich ein Konto. Und sind so merkwürdig freundlich zu ihm. Die Freundlichkeit trifft ihn wie ein Faustschlag.

Er hört, dass Eva nach New York geht. An das amerikanische Kulturinstitut in New York. Das ist viel zu weit weg. Er malt blutrot-grüne Wolken. Sie stehen senkrecht. Man kann den Himmel nicht rahmen. Schon länger hatte sich das streng Geometrische seiner Bilder ins Gestische gelöst. Lament, Klage heißen diese Bilder. Es sind die Letzten. Er macht nicht auf, als Freunde vor seiner Tür stehen. Die Tür wird aufgebrochen. Gehen Sie lieber nicht rein, sagt man den Freunden. Keiner weiß, wie lange er da schon liegt.

Seine Schüler von der Volkshochschule sind noch immer zusammen. Sie heißen „Echtgelb“ und sind eine Künstlergruppe. Sie widmen ihm ihre Ausstellungen. Von ihm lernten sie, wie man Bilder anschaut. Sie haben den Clinton-Storm- Blick.

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