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Wirtschaft: Cornelia Bienert-Adam

Geb. 1955

Ein Buch pro Woche, 2000 im Leben. Das ist nicht viel. Natürlich kann man auch ein Buch der neuen Harmlosen lesen: Ildikó von Kürthy, Sven Regener zum Beispiel. Fast Food. Schlingkost. Rückstandslos verdaubar. Aber das ist nicht sonderlich klug. Denn so viele Bücher kann man nicht lesen im Leben.

Cornelia Bienert begann mit fünfzehn. 34 Leserjahre. Ein Buch die Woche im Schnitt, 52 im Jahr. Summa summarum: 1768. Knapp 2000. Das ist nicht viel. In jeder besseren Privatbibliothek stehen drei-, viertausend Bände.

Die Gegenrechnung: Was hätte sie in der Zeit, die sie lesend verbrachte, nicht alles tun können? Was tun andere Leute in der Zeit? Gut Essen gehen, über dies und das reden, gerne über das gerade Gegessene, Shoppen, mal richtig Ausspannen – das alles hat sie verabscheut. Da wurde sie ärgerlich. „Zur Ruhe komm ich, wenn ich tot bin. Punkt zwei: Über Rezepte red’ ich nicht!“

Andere Frage: Wie viele Leben kann man leben? Als Frau, Lehrerin, Mutter, Freundin, Geliebte? Und wann gibt man sich zufrieden? Sie hat alle Rollen, die ihr aufgegeben waren, gut gespielt, und gab sich dennoch nicht zufrieden. Ein hungriges Temperament. Morgens, bevor sie zur Schule ging, las sie eine Stunde, um fünf, halb sechs stand sie auf, Selbstdisziplinierung aus Leidenschaft.

Als Kind war sie still, schüchtern, zu Tränen neigend. Man wusste nicht, warum. Sie wusste es selbst nicht. „Oh Gott, ich bin so traurig:“ Das legte sich meist bis zur Essenszeit, und war dennoch keine Koketterie.

Sie war eigensinnig, verwöhnt vom Vater, musste Umwege gehen, ihrem Trotz zuliebe. Nicht aufs Gymnasium, sondern mit ihren Freunden auf die Realschule. Mit vierzehn: rauchen, schminken, schräge Vögel um sich sammeln. Bis einer sie zum Lesen brachte. Ihre Jugendliebe, die sie im Alter wieder traf, weil er ganz in der Nähe wohnte, und unversehens erschien, als er am nötigsten war – aber das ist eine andere Geschichte.

Die Bücher halfen ihr von ihrem unsteten Selbst wegzukommen. Wer liest, ist keine Minute allein. Da bleibt keine Zeit mehr für Wehleidigkeit. Und die Angst vor dem Fremden verliert sich von selbst. Das hat sie dann auch lebenspraktisch umgesetzt und konsequent die Gegenwart der Menschen gesucht: bei Bolle an der Kasse, als Taxifahrerin und schließlich, in ihrem Traumberuf, als Lehrerin.

Wer liest, will andere zum Lesen bringen. Zum richtigen Lesen, denn eigentlich genügt im Leben ein Buch. Ob es der „Mann ohne Eigenschaften“ ist oder „Die Klavierspielerin“, wer ein gutes Buch gelesen hat, der ist immun gegen Schund.

Cornelia Bienerts Mitstreiter im Kampf gegen die Nu-mach-dir-mal- nich-mehr-als-nötig-den-Kopf-Trägheit der Unterforderungspädagogik war George Eliot, knapp zweihundert Jahre älter, und eigentlich eine Frau, Mary Ann Evans, die erste Schriftstellerin, die von ihrem Schreiben leben konnte, ohne sich ans Publikum zu verkaufen. Ihr Hauptwerk: „Middlemarch“. 1000 Seiten Reisen durch die englische Provinz, eine lange Wegstrecke, mit vielen klugen Stolperstein-Sätzen: „Die schwierige Aufgabe, eine fremde Seele zu erkennen, ist nichts für Leute, deren Bewusstsein hauptsächlich aus den eigenen Wünschen besteht.“

Cornelia Bienert erklärte dieses Buch in ihren Klassen zur Pflichtlektüre – und die Schüler liebten es. Etwas zumuten heißt: anderen helfen, Mut für das Ungewöhnliche aufzubringen. Literatur, darauf pochte sie, lenkt ganz und gar nicht vom Leben ab, sie führt mitten hinein. Deswegen ließ ihre eigene Neugier auf Menschen nie nach und ihre Lust auf Kitsch schon gar nicht. Cornelia liebte Lady Di ganz und gar aufrichtig und die Lindenstraße. Und alles, was irgendwie das Versprechen gab: Es wird gut. Oder es gibt zumindest eine Fortsetzung. Da stritt ihr Kopf zuweilen gegen das Herz. Und wenn es im guten Roman wider Erwarten doch ein Happy End gab, sprang sie durch die Wohnung vor Freude. Wenn nicht, schmollte sie: „Das hat mich aber so aufgeregt, das hätten die auch anders schreiben können… na ja, gut – vom Literarischen her… Aber wär’ doch schön gewesen, ein Happy End.“

Daran hat sie bis zum Schluss geglaubt. Aber sie war chancenlos. Irgendwann hatte das Herz keinen Platz mehr, weil die vom Krebs gequollene Leber alles wegdrängte. „Blöd eigentlich: Jetzt hab’ ich endlich so viel Zeit zum Lesen. Aber nicht mehr die Kraft.“

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