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Die Kurstafel im Frankfurter Aktiensaal von oben betrachtet.

© Reuters

Der Dax wird 25 Jahre: Die Kurvenfunktion

Der Dax ist Deutschlands wichtigstes Wirtschaftsbarometer, seit nunmehr genau 25 Jahren. Gemacht wird er in einem Büro in Eschborn. Ein Besuch.

Deutschlands goldenste Kurve ist in einem nüchternen Großraumbüro zu Hause, mit Blick auf eine Schnellstraße, das Taunusgebirge und den Norden einer Stadt, die Eschborn heißt. Eschborn in Hessen, 20000 Einwohner, 30000 Arbeitsplätze. Arbeitsplätze an Schreibtischen vor allem, und davon stehen die meisten hier am Schnellstraßenrand, im Gewerbegebiet Süd, auf 50 Hektar mit Büroriegeln bebautem Land. Einige mittelgroße Hochhäuser erheben sich, Natursteinfassaden, grünes Spiegelglas spiegelt, blaues Spiegelglas auch. Es ist gerade Mittagszeit, und die Straßen sind voll von den Menschen, die sonst hinter den Spiegeln verschwinden.

Sie ballen sich vor den Bürohauseingängen und vor einem Wohnwagen, auf dem „Bestworscht in Town“ geschrieben steht, an den Stehtischen einer Fish-und-Chips-Bude und auf den Allwetterstühlen eines Coffee-to-go-Ausschanks, aufgestellt an einem Parkplatzrand. Wie an Schnüren gezogen gehen einige anderweitigen Erledigungen nach, steuern chemische Reinigungen an oder „The Cut Hair Style“, „Deutschlands 1. Flatcut-Friseur“, einmal im Monat zahlen, so oft wiederkommen, wie man will. Oder den Zahnarzt, der mit „Profitieren Sie von der Business Class der Zahnmedizin“ wirbt, „optimal auf die Bedürfnisse beruflich stark eingebundener Patienten abgestimmt“, „keine Wartezeiten“. Für diejenigen, die nicht zu Fuß gehen möchten, gibt es einen „kostenlosen Shuttleservice von und zum Büro“.

Es scheint eine gewisse Mindesteffizienz zu herrschen in diesem Viertel. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass Deutschlands Superkurve sich an diesem Ort niedergelassen hat und nicht beispielsweise im nahen Frankfurt am Main, am zentral gelegenen Börsenplatz, wo viele sie wahrscheinlich vermuten würden. Denn dort gibt es viel schlechten Einfluss in der Nachbarschaft. Unwirtschaftlich arbeitende Banken zum Beispiel, auf Steuergeld angewiesen, und ein Bahnhofsviertel. Vor allem aber ist die Gewerbesteuer dort höher.

Hier also, in 65760 Eschborn, wird der Dax gemacht. Oder besser gesagt: Hier wird er zumeist sich selbst überlassen. Der Dax, der Deutsche Aktienindex, Produkt und eingetragene Marke der Deutschen Börse AG, jeden Tag dutzendfach im Fernsehen und hunderte Male in den Zeitungen, am heutigen 1. Juli 25 Jahre alt. Konrad Sippel war acht, als der Index eingeführt wurde. Seit 13 Jahren arbeitet er bei der Deutschen Börse. Davor hat er rasend schnell Mathematik studiert, und jetzt also ist er 33 und sitzt als „Global Head of Business Development”, als Verantwortlicher für die Produktentwicklung und damit auch für den Dax, im 15. Stock des Eschborner Börsenhochhauses, die Schnellstraße und den Taunus im Rücken und das große Büro vor sich.

Warum der Dax keine Kurve ist

Er trägt Schwarz-Weiß, das Hemd jedoch ist Eschborn-unüblich aufgeknöpft, eine Krawatte fehlt ebenso. Ansonsten aber erscheint er als ebenso unbedingt arbeitsam wie das ganze Gewerbegebiet. Wenn er nur eine Sekunde nicht aufpasst, passieren Fehler. Sippel sagt: „Das mit der Kurve ist schon mal falsch.“ Der Dax sei keine Kurve. Der Dax ist eine Zahl. Er ist damit ein zu Sippel sehr gut passender Arbeitsgegenstand, denn Sippel, so sagt er es von sich selbst, ist „ein zahlenaffiner Mensch“. Von morgens neun Uhr bis zum späten Nachmittag wird diese Zahl berechnet. Jede Sekunde neu. Erst die Aneinanderreihung all dieser Rechenergebnisse ergibt jene Kurve – korrekt gesagt: jenen Graphen – der oft wie das Streckenprofil einer Tour-de-France-Bergetappe aussieht und wochentäglich jeweils um 19 Uhr 55 seine größte Aufmerksamkeit erfährt. Dann, kurz vor der „Tagesschau“, läuft in der ARD die Sendung „Börse vor acht“. Dort wird der Graph mit anderen Graphen verglichen, es wird resümiert und in die Zukunft geschaut. Jeden Tag aufs Neue, gelegentlich ein bisschen uninspiriert, derzeit ist wieder oft davon die Rede, dass der Dax eine „psychologisch wichtige Marke“ nicht „geknackt“ habe.

Vielleicht sollte man besser Sippel in diese Fernsehsendung holen. Er, der Zahlenaffine, ist nämlich in der Lage, Fragen an diesen Deutschen Aktienindex zu stellen, die dieses Zahlenwerk mit kaum geahntem Leben füllen. Sippel fragt zum Beispiel: „Was ist der Unterschied zwischen der BMW-Großaktionärsfamilie Quandt und meiner Oma?“ „Wie viel hat dieser Index, der ja dem Wunsch dient, die deutsche Wirtschaft exakt nachbilden zu wollen, überhaupt mit der deutschen Wirtschaft zu tun?“ „Was ist deutsch?“ Hat er sich eine dieser Fragen aus dem Leben gestellt, macht er sich an die Antwort. Er wendet sich Zahlen zu und fängt an zu rechnen. Er leistet Übersetzungsarbeit zwischen der Wirklichkeit und der Mathematik. Sippel und seine Mitarbeiter stoßen dann auf Modelle, mit denen sich festlegen lässt, ob der Aktienwert einer Firma, die in Deutschland einen Briefkasten und ein Büro unterhält, ansonsten aber ganz woanders beheimatet ist, in den Dax gehören könnte oder nicht. Er findet dann auch den Unterschied zwischen der Quandt-Familie und der Großmutter, die ebenfalls BMW-Aktien hat, nur eben deutlich weniger und unterm Kopfkissen. Was den Unterschied zwischen sogenanntem Festbesitz und Streubesitz markiert, zwischen Aktien mithin, die wie festgenagelt in Großdepots liegen und deshalb für lange Zeit nicht an der Börse auftauchen – mit denen nicht gehandelt wird und die deshalb keinen direkten Einfluss auf das Geschehen dort haben –, und jenen, die zumindest gelegentlich den Besitzer wechseln könnten.

Die Unübersichtlichkeit im Jahr 1987

Der Dax: sekündlich erhobener Überblick über den Zustand der 30 wertvollsten und börsenumsatzstärksten deutschen Unternehmen. Erfunden im Jahr 1987 von Frank Mella, einem Redakteur der „Börsen-Zeitung“, mit dem Ziel, die damals existierende Handvoll anderer Börsenindizes zu ergänzen. Die „Börsen-Zeitung“ selbst erhob damals schon einen der bekanntesten davon, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ auch einen eigenen, und die Commerzbank ebenfalls. Alle wurden unabhängig voneinander und mit etwas voneinander abweichenden Methoden berechnet. Es herrschte also eine gewisse Unübersichtlichkeit. Mellas neue Methode hätte nach ihrer Einführung im Jahr 1988 diese Unübersichtlichkeit durchaus noch vergrößern können, aber sie erwies sich zu seiner eigenen Überraschung als so durchsetzungsstark, dass sein Dax längst Deutschlands unangefochtener Leitindex geworden ist. Er steht als Solitär zwischen allen anderen. Und das, obwohl aus jener Handvoll Indizes mittlerweile 12000 geworden sind. Die meisten davon sind aufs Allerfeinste ausdifferenziert. Mal bilden sie vor allem die eigentlichen Aktienwerte ab, mal beziehen sie Dividendenzahlungen in die Berechnungen mit ein. Sie gewichten Wetten auf die Zukunft mal mehr und mal weniger, konzentrieren sich auf bestimmte Firmen oder bestimmte Branchen. Ein jeden Menschen überforderndes Wirrwarr ist entstanden, mit dem sich folglich vor allem Rechenmaschinen befassen, und das doch nur einem einzigen Ziel dient: Klarheit zu schaffen. Klarheit zur Minderung des Risikos, das jeder Aktienkauf und -verkauf in sich trägt. 12000 Mal mehr oder weniger große Klarheit. Sippel sagt: „Trotzdem, unser Job ist noch nicht erledigt.“

Die großen Show, als der der Aktienhandel täglich präsentiert wird

Das gilt vor allem für die Mehrheit der 11999 anderen Indizes, aber gelegentlich auch für den Dax. Als Sippel hier anfing, stellte sich ihm zum Beispiel die Großmutter-Quandt-Familien-Frage zum ersten Mal. Ein paar Jahre zuvor war die Deutsche Telekom an die Börse gegangen. Die schiere Größe dieser Firma und die im Verhältnis dazu wenigen frei verfügbaren Aktien hatten eine Unwucht in den Dax gebracht. Man hätte sie ignorieren können, zumal alle professionellen Börsenbeteiligten damit umzugehen wussten. Es gab aber eben auch die Möglichkeit, den Index der Telekom-Wirklichkeit anzupassen. Weil Sippel sich als jemanden sieht, der hier eingestellt worden ist, um Problemlösungskompetenz zu zeigen, entschied er sich für das Zweite. „Das ist doch das Schöne an der Mathematik“, sagt er. „Man hat ein mathematisches Problem, und das hat man dann mit den Mitteln der Mathematik zu lösen. Man macht eine Beweisführung.“ Wenn die dann auch noch schön einfach und nachvollziehbar ausfalle, umso besser. Er kam dann auf jenes Modell, das den Festbesitz vom Streubesitz unterscheidet. Es war der größte Eingriff in die Dax- Formel in den 25 Jahren ihres Bestehens.

Korrekturen an den Index-Regeln sind ziemlich selten vonnöten. In der nächsten Woche jedoch wird eine davon wieder zum Einsatz kommen, dann nämlich, wenn der Dax-Konzern Siemens einen Teil von sich abspaltet. Siemens trennt sich dann von seiner Lampensparte Osram, so wie sich der Dax-Konzern Bayer vor acht Jahren von seiner Chemieabteilung Lanxess trennte. Damals rechnete Sippel wieder, kam zu einer alle Beteiligten befriedigenden Lösung, und weil das so war, wird sie nun im Siemens-Osram-Fall wieder angewandt.

Als der Dax zum Star wurde

Die Formel soll verhindern, dass das durch die Osram-Abspaltung auf dem Papier wertloser werdende Unternehmen Siemens im Dax einen Knick nach unten auslöst. Spätestens mit dem Börsengang der Telekom ist der Dax selbst zum Star geworden. 713 Millionen Telekom-Aktien wurden im Jahr 1996 verkauft, 1999 noch einmal 281 Millionen und ein Jahr später noch einmal 200 Millionen. Eine beispiellose Werbekampagne sorgte dafür, dass sich auch Menschen für den Aktienhandel interessierten, denen das ganze Börsengeschehen vorher so fremd und unverständlich wie nur irgendwas gewesen war. Sie hatten in Lebensversicherungen investiert. Nun lernten sie Börsensprache. Sie lernten, dass Aktien nicht gekauft werden, sondern „gezeichnet“. Sie lernten, dass Notenbanken eine Rolle spielen, weil sie „an der Zinsschraube drehen“. Es gab „clevere Anleger“ und Leute, die auf „Börsengurus“ hörten. „Rallies“ fanden statt, „Performer“ performten, „Stories“ wurden erzählt, „Zitterprämien“ ausgezahlt und „Fieberkurven“ betrachtet. Es muss ein ungeheures Überredungspotenzial in diesen Worten stecken. Sippel benutzt kein einziges davon.

Er ist ja auch kein Aktienhändler. Er bildet ja nur ab, was das Ergebnis der Arbeit dieser Menschen ist. Er macht aus den Werten von Papieren, die dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterliegen, eine konkrete Zahl. Mit „psychologisch wichtigen Marken“, die „geknackt“ oder eben „nicht geknackt“ werden, hat seine Welt nichts zu tun. Sie hat überhaupt mit Psychologie nichts zu tun. Auch nicht damit, ob ein bestimmter Aktienkurs das damit beschriebene Unternehmen zu hoch oder zu niedrig bewertet. Das sind Gedanken, die die Aktienhändler und jene Menschen sich machen müssen, die Aktien besitzen. Sippel bringt lediglich Ordnung ins Chaos. Er liefert mit dem Dax immerhin den substanziellsten Beitrag zu der großen Show, als der der Aktienhandel den Deutschen täglich präsentiert wird. Kein Mensch muss heute mehr in jenen hell ausgeleuchteten Börsensaal ins Frankfurter Stadtzentrum gehen, aus dem wochentäglich fünf vor acht die Finanzjournalisten fürs Fernsehen berichten. Dafür reicht – vorausgesetzt, es gibt einen Internetanschluss – jeder beliebige Ort auf der Welt. Folglich gibt es kaum noch Händler in diesem Saal. Manchmal sind sie zahlenmäßig den Berichterstattern unterlegen. Die Show führt noch zu einem weiteren Missverständnis: dem vom Dax als der eigentlichen und einzigen Wirtschaftsmacht. Sippel dagegen hatte davon gesprochen, dass der Dax dem Wunsch folge, den Zustand der deutschen Wirtschaft exakt abzubilden. Dem Wunsch.

Und was ist mit dem Mittelstand?

Der Dax versammelt 30 große Firmen, Allianz, Bayer, Daimler, Henkel, Siemens, so groß, dass sie zusammen tatsächlich alle in Deutschland börsennotierten Unternehmen dominieren. Aber was ist mit dem Mittelstand? Man hört die Finanzberichterstatter schon „Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft“ sagen, und sieht sie sich dann umgehend wieder der Dax-Kurve zuwenden. Der Mittelstand: mehr als 99 Prozent der deutschen Unternehmen, zwei Drittel aller Beschäftigten, vier Fünftel aller Auszubildenden, zwei Fünftel aller Umsätze. Sippels Kurve, die keine Kurve ist, sondern die Aneinanderreihung von Rechenergebnissen, hat es geschafft, den Blick auf alles andere zu verdecken, was in Deutschland sonst noch Wirtschaft ist. Das ist ein unglaublicher Erfolg. Aber eben auch nur die halbe Wahrheit. Es mag in der Natur des Menschen liegen, lieber auf das Große und Spektakuläre zu schauen als auf Gewöhnliches. Vielleicht liegt es aber auch an diesem Graphen an sich. Wer ihn sieht, versteht ihn. Es geht rauf oder runter. Sippel sagt es doch auch. „Ich bin glücklich, dass es ihn gibt“, sagt er. „Wenigstens etwas an meiner Arbeit, das anschaulich ist.“ Glücklich? Ist das andere, die Rechnerei, denn so zermürbend? Nein, ganz und gar nicht, wunderbar, es sei nur so, dass kaum jemand um ihn herum, aus seinem Privatleben, meint er, begreife, was er tue. Es ist das typische Los desjenigen, der Volkswirtschaft einfach erklärt. Er steht unter Unverständlichkeitsvorbehalt. Weil er sich in einer Welt bewegt, die von Millionen anderen Tag und Nacht zerlegt und wieder neu zusammengesetzt wird. Kompliziert ist das nicht. Es ist nur unübersichtlich.

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