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Wirtschaft: Der neue Partner übt sich in Zurückhaltung

Zwischen Börsenboom und Schattenwirtschaft: Von marktwirtschaftlichen Strukturen ist Rußland weit entferntVON MARKUS ZIENER, MOSKAUDie russische Tageszeitung "Kommersant Daily" zitierte zum Auftakt der G 8-Runde in Denver einen hohen Kremlbeamten: "Gut", sagte er, "daß wir bei den finanzpolitischen Gesprächen gar nicht dabei sind.Denn was sollten wir dort eigentlich?

Zwischen Börsenboom und Schattenwirtschaft: Von marktwirtschaftlichen Strukturen ist Rußland weit entferntVON MARKUS ZIENER, MOSKAU

Die russische Tageszeitung "Kommersant Daily" zitierte zum Auftakt der G 8-Runde in Denver einen hohen Kremlbeamten: "Gut", sagte er, "daß wir bei den finanzpolitischen Gesprächen gar nicht dabei sind.Denn was sollten wir dort eigentlich?" So desillusionierend diese Erkenntnis sein mag, so spiegelt sie doch die Realitäten wider.Denn auch wenn der russische Präsident Boris Jelzin im Vorfeld von Denver die Anerkennung seines Landes als Marktwirtschaft forderte, so ist Rußland noch weit davon entfernt, als marktwirtschaftlich verfaßte Volkswirtschaft zu gelten.Rußland ist ein Land im Umbruch und wird dies auch noch auf Jahre hinaus bleiben. Besser als die gängigen makro-ökonomischen Indikatoren, wie Inflationsrate, Wirtschaftswachstum oder Devisenreserven, beschreibt das Verhalten der Geschäftsleute selbst den Zustand der russischen Volkswirtschaft.So schätzen Experten, daß im Laufe der letzten Jahre bis zu 70 Mrd.Dollar als Fluchtgelder im Ausland, vornehmlich in der Schweiz, in Liechtenstein und Zypern "geparkt" wurden.Zwar kehrt mittlerweile ein Teil dieses Geldes wieder in das Land zurück, doch fließt es kaum in den produktiven Bereich, wo Waren erzeugt, verkauft und somit Arbeitslätze geschaffen werden.Vielmehr ziehen sich russische Kapitalbesitzer langsam aus dem Ausland zurück, weil heute in Rußland höhere Spekulationsgewinne zu erzielen sind.So lebte der jüngste Moskauer Börsenboom zu einem Gutteil von Fluchthelfern und verkauft der Staat nicht wenige seiner hochverzinsten Anleihen an einst abtrünnige "Neue Russen".Mit echten Direktinvestitionen in Rußland hat dies nur wenig zu tun. Ein anderer Beleg für die Unvollkommenheit der russischen Marktwirtschaft ist der hohe Anteil der Schattenwirtschaft, der selbst vom russischen Innenministerium auf bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts veranschlagt wird.Damit wird fast jeder zweite Rubel, der in Rußland umgesetzt wird, "schwarz" verdient.Geld an den Finanzämtern vorbeizuschleusen ist zu einem Volkssport geworden.Nicht wenige Unternehmen, die ihren Angestellten überdurchschnittliche Gehälter zahlen, sind bereits dazu übergegangen, dies in zwei Varianten zu tun: Einmal als offizielles Gehalt, das dann auch der Steuer gegenüber deklariert wird, und daneben über ein zweites Gehalt, das unbemerkt in die Tasche des Mitarbeiters fließt.Das Unternehmen weist diese Ausgaben dann mit Hilfe einiger buchungstechnischer Tricks als Kredite oder Sonderbelastungen aus.Angesichts einer Steuer, die schon geringfügig über dem Durchschnitt liegende Einkommen besteuert, kommen moralische Skrupel nicht auf. Ein zentrales Kennzeichen der Marktwirtschaft ist der Wettbewerb - doch dieser existiert in Rußland in vielen Branchen nicht oder nur sehr eingeschränkt.Der Grund für diese Struktur liegt im Erbe der Sowjetunion, die miteinander konkurrierende Produzenten gar nicht erst zuließ.So entstand nicht einmal innerhalb dieses geschlossenen Systems annähernd eine Atmosphäre, die dem gesunden Wettstreit der Ideen nach westlichem Verständnis gleichkam.Im Ergebnis dauerte die Entwicklung etwa eines neuen Automodells in der ehemaligen UdSSR durchschittlich 12 Jahre, während im Westen dafür nur drei bis fünf Jahre benötigt werden.Trotz des politischen Umbruchs hat sich daran bis heute nicht viel geändert.Während in vielen mittelosteuropäischen Ländern die Öffnung der Grenzen für Importe die fehlende inländische Konkurrenz ersetzte und die alten Monopolisten zum Umdenken zwang, ist dieser Effekt in Rußland weitgehend ausgeblieben.Russische Produkte, die qualitativ auf dem Weltmarkt mithalten könnten, sind noch immer kaum zu finden.Die Stellung der Monopole ist auch heute noch unangefochten - und vergangene russische Regierungen haben mit Steuerprivilegien, Subventionen und Importzöllen dazu häufig noch nach Kräften beigetragen. Will Rußland zum Kreis der westlichen Industrieländer aufschließen, muß ein grundsätzlicher struktureller Umbau erfolgen.Die neue Regierung, rund 100 Tage im Amt, hat nun erstmals dazu ernsthaft den Versuch unternommen.Mit der jetzt in erster Lesung erfolgten Annahme des neuen Steuerkodex, der alleine die Steuerarten von 230 auf 30 reduziert, geht das Tandem der Vizepremiers Tschubais/Nemzow in diese Richtung.Diese Vereinfachung soll nicht nur das Investieren attraktiver machen, sondern auch die herrschende Rechtswillkür abbauen.Und mit der verstärkten Kontrolle der Monopole will man zumindest die marktbeherrschenden Unternehmen dazu bringen, ihre Stellung nicht weiter für das eigene Profitstreben zu mißbrauchen. Boris Saitzkij, renommierter Professor an der Russischen Finanzakademie in Moskau, warnt vor diesem Hintergrund vor einer allzuschnellen Mitgliedschaft Rußlands in der Welthandelsorganisation (WTO)."Wir bekämen damit nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten übertragen", sagt er im Gespräch.Saritzkij teilt damit Befürchtungen vieler Experten.Denn diese glauben, daß die unvollständige Marktwirtschaft Rußlands einen geballten Ansturm des Welthandels kaum lange aushalten könnte.

MARKUS ZIENER[MOSKAU]

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