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Wirtschaft: Der Weltuntergang ist ausgeblieben

BRASILIA .Panik an der Börse, Schlangen vor den Banken, erste Hamsterkäufe.

BRASILIA .Panik an der Börse, Schlangen vor den Banken, erste Hamsterkäufe.Knapp hundert Tage ist es her, daß Brasiliens Währung in den Keller fiel und das größte Land Lateinamerikas den Rest des Kontinents mit in den Abgrund zu reissen drohte.An Warnungen hatte es nicht gefehlt - doch in Brasilia stellte man sich taub, bis die Kapitalflucht die Devisenreserven aufzehrte und die Regierung den Wechselkurs freigeben musste, den sie vier Jahre lang verteidigt hatte, um die Inflation zu bremsen.

Der Dammbruch Mitte Januar schwemmte alle Hoffnungen, die globale Finanzkrise könne an Lateinamerika vorübergehen, davon.Der "Plano Real", das Stabilitätsprogramm von Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso, war plötzlich bloß noch Makulatur.Der Real verlor binnen weniger Tage fast die Hälfte seines Wertes, die Inflation schien ihr Drachenhaupt erneut zu erheben, die Zinsen explodierten, die Unternehmen ordneten Massenentlassungen an.Ohne die Beistandskredite des IWF wäre Brasilien zahlungsunfähig geworden.

Doch dann geschah das Wunder.Der Kongreß in Brasilia, der sich Jahre lang geweigert hatte, die leeren Kassen und das Doppeldefizit von Staatshaushalt und Leistungsbilanz zur Kenntnis zu nehmen, raffte sich unter dem Eindruck des Währungsdesasters auf, endlich die wichtigsten Sparbeschlüsse zu verabschieden, auf die der Präsident immer wieder vergebens gedrängt hatte.Wenigstens wurde dadurch der fatale Eindruck verwischt, Brasilien wolle zwar das Geld vom Weltwährungsfonds kassieren aber nichts dafür tun.

Und ein weiteres Wunder geschah: Die Brasilienkrise löste keine negative Kettenrekation auf dem Subkontinent aus.Die meisten Länder Lateinamerikas werden zwar in diesem Jahr ökonomisch stagnieren oder sogar schrumpfen - aber kollabieren werden sie wohl nicht.

Am härtesten hat die Brasilienkrise Argentinien getroffen.Brasilien nimmt 30 Prozent der argentinischen Exporte ab, die Abwertung des Real hat zu einem deutlichen Rückgang der argentinischen Ausfuhr geführt; die Rezession in Brasilien steckt Argentinien also an.Das gleiche gilt für die übrigen Mitglieder in der südamerikanischen Zollunion Mercosur, Uruguay und Paraguay.Chile hingegen konnte die Krise abfedern - verminderte Warenimporte wogen die geringeren Exportgewinne von Kupfer einigermassen aus; Chiles Wirtschaft stagniert - und dürfte sich bei steigenden Kupferpreisen schnell wieder erholen.

Das Schicksal von Kolumbien, Venezuela und Ecuador steht und fällt weniger mit den globalen Finanzströmen als mit dem Erdölpreis, der allerdings 1998 ein Rekordtief erreichte.Peru hat, ebenso wie Bolivien, durch eine recht restriktive Ausgabenpolitik wenig Angriffsfläche in der Finanzkrise geboten.Und Mexiko profitierte von seiner Nachbarschaft mit den boomenden USA, wohin 85 Prozent seiner Ausfuhren gehen.

War die brasilianische Krise also nur ein Betriebsunfall, ein "susto", ein kurzer Schrecken, wie Präsident Cardoso behauptet? Einige Tatsachen sind erstaunlich genug: Der Real hat wieder Grund gefunden.Vor der Krise stand er mit 1,30 zum Dollar, dann stürtzte er auf 2,05.Jetzt hat er sich auf einen Mittelwert von 1,70 eingependelt.Die Teuerung hat zugenommen - aber keineswegs dramatisch.Die Konsumenten halten sich zurück, was angesichts der gestiegenen Arbeitslosigkeit nicht verwundert.Die Industrieproduktion ist zwar gefallen, aber weniger als selbst die Regierung erwartet hatte.Großbanken sind nicht zusammengekracht.Eine Rekordernte hilft die Konjunktur zu stützen.Alles in allem: Brasiliens Wirtschaft wird in diesem Jahr um drei oder vier Prozent schrumpfen - weit weniger dramatisch als in Indonesien oder Rußland.Schon fließt Fluchtkapital nach Brasilien zurück, die Börse in Sao Paulo haussiert.Aber, ist Brasilien über den Berg?

Selbst Präsident Cardoso, der diese Woche einen Blitzbesuch nach Bonn unternimmt, glaubt nicht daran.Zwar sei das Schlimmste überstanden, aber zur Entwarnung gäbe es noch keinen Anlaß.Die öffentlichen Ausgaben zu kontrollieren, bleibe ein Dauerauftrag.Die Schulden Brasiliens (Binnen- wie Außenschuld addieren sich auf fast die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Jahresleistung von 800 Mrd.Dollar) wirken wie schwere Gewichte in der Leistungsbilanz.Das Haushaltsdefzit muß abgebaut werden, die Exporte müssen steigen."Brasilien ist ein großes Land.In Europa macht man sich falsche Vorstellungen darüber, wie schwierig es ist, diesen Koloß zu steuern.", sagt Cardoso.Und: Vom einmal eingeschlagenen Kurs des Freihandels und der Marktpolitik werde Brasilien nicht abweichen.

CARL GOERDELER

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