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Wirtschaft: Die Ausbildung krankt an der Bürokratie

Eine Reform ist überfällig / Den "kleinen Gesellenbrief" aber gibt es noch nichtVON PETER BOLMBundesbildungsminister Jürgen Rüttgers lag voll daneben.In einem Presse-Info hatte er Anfang vergangener Woche erklären lassen, daß Jugendliche ohne abgeschlossene Lehre nach einer nicht oder nur in Teilen bestandenen Prüfung künftig Anspruch auf einen sogenannten kleinen Gesellenbrief haben.

Eine Reform ist überfällig / Den "kleinen Gesellenbrief" aber gibt es noch nichtVON PETER BOLMBundesbildungsminister Jürgen Rüttgers lag voll daneben.In einem Presse-Info hatte er Anfang vergangener Woche erklären lassen, daß Jugendliche ohne abgeschlossene Lehre nach einer nicht oder nur in Teilen bestandenen Prüfung künftig Anspruch auf einen sogenannten kleinen Gesellenbrief haben.Nach Absprache mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) könne das neue Zertifikat bereits zu den nächsten Prüfungsterminen bundesweit ausgestellt werden.In einem Punkt hatte Rüttgers recht.Jahr für Jahr bleiben in Deutschland rund 100 000 Jugendliche ohne qualifizierten und durch ein weiterführendes Prüfungszeugnis belegten Abschluß.Etwa sechs Prozent der Auszubildenden verfehlen auch im zweiten Anlauf jährlich das Prüfungsziel. Einig sind sich die Kammern mit dem Minister, daß man diese Jugendlichen nicht ihrem Schicksal überlassen darf.Einmal als Durchfaller oder Abbrecher abgestempelt, haben sie kaum noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt.Hier aber mit einem Zertifikat nachzuhelfen, das die Bezeichnung "kleiner Gesellenbrief" trägt, geht den Kammern zu weit.So hatte der ZDH bereits im Februar richtiggestellt, daß es eine entsprechende Vereinbarung mit dem Bundesbildungsminister nicht gibt.Wörtlich hieß es in einer Mitteilung der Kammer: "Ein solches Zertifikat würde in unzulässiger Weise die in hohem Ansehen stehende Gesellenprüfung abwerten".ZDH-Präsident Dieter Philipp bekräftigte diese Haltung jetzt noch einmal sehr deutlich.Gegenüber dem Tagesspiegel sagte Philipp, daß der Gesellenbrief eine hohe Qualitätsauszeichnung sei, mit der ein Zugang zum Meisterbrief erworben werde.Hieran dürfe sich nichts ändern.Im Gegenteil: man sei dabei, den Gesellenbrief noch weiter aufzurüsten.Den Schnellschuß des Bonner Ministers wollte Philipp lediglich als politisches Signal interpretieren, das mit Hilfe der Kammern längst in Gang gesetzte Reformwerk im Ausbildungsprocedere weiter voranzubringen.Darüberhinaus gebe es bereits die Möglichkeit, eine nur im praktischen Teil bestandene Gesellenprüfung durch eine entsprechende Bescheinigung zu honorieren.Damit sei klargestellt, daß sich der Jugendliche eine Qualifikation erworben habe, die ihn deutlich von den "Ungelernten" unterscheidet. Auch der Bildungsminister geht davon aus, daß Lehrlinge, die im theoretischen Teil der Prüfung scheitern, häufig gute Praktiker sind.Den Anspruch auf einen wie auch immer gearteten Gesellenbrief aber haben die Prüflinge mit diesem Nachweis nicht erworben.Die Bescheinung ihrer praktischen Kenntnisse hat bisher noch keinen Namen.Um den eher manuell Begabten aber ebenfalls einen vollen Lehrabschluß zu garantieren, der auf der noch zu installierenden Ausbildungsleiter eines Stufenmodells angesiedelt ist und den Einstieg ins Arbeitsleben erleichtert, wird auf allen Ebenen inzwischen lebhaft diskutiert."Wir brauchen die Ausweitung in der Qualifikation nach beiden Seiten", sagt Philipp.An der Spitze soll der Meisterbrief weiter aufgewertet werden, um ihn auch für höhere Schulabgänger interessanter zu machen.Nur sieben Prozent Abiturienten, die sich heute für einen Handwerksberuf entscheiden, sind den Kammern zu wenig.Zum anderen sollen auch in den darunterliegenden Ausbildungsbereichen neue Prüfungsabschlüsse dafür sorgen, daß die gesamte Breite der Begabungen erreicht wird.Das setzt allerdings auch eine Änderung der Tarifstruktur voraus.Wo sich die Betriebe durch eine Vielzahl unterschiedlich ausgebildeter Facharbeiter uneingeschränkt Vorteile versprechen, zögern aber die Gewerkschaften noch.Ihr Vorbehalt gilt den dann neu auszuhandelnden Löhnen, die sich dem nach unten geöffneten Ausbildungsniveau anpassen müßten.Philipp rechnet damit, "daß sich nach der Bundestagswahl über alles leichter sprechen läßt". Auch in Berlin ist das Problem veralteter Strukturen bekannt.Der Präsident der Berliner Handwerkskammer Hans-Dieter Blaese wird nicht müde zu betonen, daß die Mühlen der Ausbildungsbürokratie zu langsam mahlen.Das "Duale System" im Doppelpack staatlicher wie betrieblicher Ausbildung ist zwar noch immer ohne Alternative.Dennoch fordert Blaese vor dem Hintergrund des technischen Wandels, der auch an den Lehrlingen nicht vorübergeht, mehr Flexibilisierung und ein Aufbrechen der starren Ausbildungsordnungen.In diesem Zusammenhang wird die praxisbezogene Ausbildung im Betrieb immer wichtiger.Blaese fordert eine neue Ausbildungsgliederung, in der "hohe betriebliche Ausbildungsanteile neben einer soliden Grundausbildung und einer Fortbildung in Modulen vermittelt wird." Den Begriff der auf einem Grundberuf aufbauenden Module nimmt auch die Berliner Industrie für sich in Anspruch.Seit längerem wird ein Thesenpapierder Unternehmensverbände diskutiert, in dem gefordert wird, nicht immer differenziertere Berufe zu kreieren, sondern Spezialisierungen in den einzelnen Grundberufen über entsprechende Bausteine mit jeweiliger Zertifizierung zu erreichen.Auch das Rüttgers-Thema wurde hier bereits angesprochen.Für die berufliche Erstausbildung, so der Vorschlag, sollten je nach den Bedürfnissen der Betriebe und den Fähigkeiten der Auszubildenden verschiedene Ausbildungsformen und -zeiten ermöglicht werden.

PETER BOLM

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