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Wirtschaft: Die Basis schrumpft

Trotz aufwendiger und teurer Streiks verlieren die großen Gewerkschaften weiter Mitglieder – vielen ist der Beitrag zu hoch

Berlin - Trotz erfolgreicher Tarifauseinandersetzungen verlieren die Gewerkschaften weiter Mitglieder. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die im Frühjahr den bislang längsten Arbeitskampf im öffentlichen Dienst ausgetragen hatte, kann kaum von den erstreikten Ergebnissen profitieren. „In diesem Jahr verlieren wir schätzungsweise 2,3 bis 2,6 Prozent der Mitglieder“, sagte Verdi-Vorstand Gerd Herzberg dem Tagesspiegel am Sonntag. Weniger stark ist mit gut einem Prozent der Schwund in der IG Metall. „Noch vor zehn Jahren brachte jede Tarifbewegung außergewöhnlich viele neue Mitglieder, das hat sich geändert“, sagt Herzberg. „Viele sagen, ,Wir machen mit, treten aber nicht ein’.“

Mit monatelangen Streiks hatte Verdi im öffentlichen Dienst eine Verlängerung der Arbeitszeit verhindert und für Krankenhauspersonal höhere Einkommen durchgesetzt. Immerhin gab es durch den Arbeitskampf „20 000 bis 23 000 neue Mitglieder“, sagt Herzberg, „doch vor allem in den Unikliniken haben wir nach dem erfolgreichen Tarifabschluss mehr neue Mitglieder erwartet“.

Die IG Metall hatte im April nach langen Warnstreiks eine üppige Tariferhöhung um drei Prozent durchgesetzt. Doch nach Ansicht von Hans-Peter Müller von der Berliner Fachhochschule für Technik und Wirtschaft „bringt das nix“. Wenn die Arbeiter sehen würden, was von der Erhöhung netto übrig bleibe, sei das kein Anreiz, dafür jeden Monat ein Prozent des Bruttolohns als Gewerkschaftsbeitrag zu zahlen. Er sieht die acht DGB-Gewerkschaften in ein paar Jahren bei fünf Millionen Mitgliedern, „dem Startbestand des DGB 1949“. Heute sind es 6,8 Millionen.

Bessere Zeiten erwartet auch Verdi-Kassenwart Herzberg nicht. „Bei meinen Haushaltsberechnungen muss ich als seriöser Kaufmann für die nächsten Jahre einen Mitgliederrückgang um zwei Prozent pro Jahr unterstellen.“ Die wichtigsten Austrittsgründe: der Beitrag sowie Zweifel am Nutzen der Gewerkschaft. Der Druck auf die Arbeitnehmer sei enorm, Betriebe würden ständig umstrukturiert und Arbeitsplätze abgebaut, „und ihr habt nicht geholfen“, klagten viele Arbeitnehmer über ihre Gewerkschaft und zögen sich dann zurück.

50 Millionen Euro hat sich Verdi die Streiks in diesem Jahr kosten lassen. Auf den ersten Blick nicht viel bei einem Etat von 400 Millionen Euro. Doch die Dienstleistungsgewerkschaft, die vor fünfeinhalb Jahren durch die Fusion von ÖTV, HBV, IG Medien, Post- und Angestelltengewerkschaft entstanden war, trägt noch immer an den Kosten der Integration. Da die vier kleinen Gewerkschaften die Dominanz der großen ÖTV fürchteten, gaben die Verdi-Gründer der neuen Organisation komplizierte und üppige Strukturen, in denen alle Beteiligten Einfluss und Besitzstände wahren konnten. Das kostet Geld – bislang hat sich Herzberg jedes Jahr beim ursprünglich drei Milliarden Euro großen Verdi-Vermögen bedienen müssen, um den Haushalt auszugleichen. Mit Hilfe eines teuren Sozialplans wird seit Jahren Personal abgebaut; anders geht es nicht, denn Kündigungen sind bis Ende 2008 ausgeschlossen. „Bei der Konsolidierung des Haushalts sind wir enorm gut vorangekommen, darauf bin ich stolz“, sagt Herzberg. Ohne die Sozialplankosten wäre 2006 sogar das erste ausgeglichene Haushaltsjahr seit der Gründung.

Mit Abfindungen und attraktiven Arbeitszeitverkürzungen – rund 300 Verdi-Beschäftigte haben die Arbeitszeit halbiert, bekommen aber noch 80 Prozent des Gehalts – versucht Herzberg, einen finanzierbaren Personalbestand zu erreichen. „Von mehr als 4200 Vollzeitstellen vor drei Jahren sind wir heute bei 3400 angelangt, aber das wird nicht reichen.“ Allein in der Berliner Bundesverwaltung in der Nähe des Ostbahnhofs seien von den 530 Stellen derzeit noch 40 zu viel. Die neue Zentrale übrigens, vor zwei Jahren bezogen, nennt Herzberg einen „Glücksfall“. „Hier haben wir Kosten von vier Millionen Euro im Jahr, am alten Standort am Potsdamer Platz waren es acht Millionen.“

Über das Funktionieren von Verdi mehr als fünf Jahre nach der Fusion macht sich Herzberg keine Illusionen. „Der Weg zu einer Gewerkschaft dauert länger, als viele gedacht haben. In einigen Fällen dauert der Übergang sogar eine Generation.“ Die Kulturen der Gründungsorganisationen seien sehr unterschiedlich. Im Ergebnis gebe es „oft noch zu wenig Zusammenhalt vor Ort, in den Bezirken“. Der Aufbau der Großgewerkschaft müsste überholt werden. „Wir haben 16 Fachbereiche und 86 Bezirke, das sollen weniger werden“, sagt Herzberg und fordert „Strukturen, die wir auch bezahlen können“.

Statt für den Apparat würde Herzberg gerne mehr Geld für Mitglieder ausgeben. Derzeit ist nicht mal ein Zehntel des Haushalts für Mitgliederwerbung vorgesehen. Mit Servicebüros in guter Innenstadtlage will Verdi mehr für die Beitragszahler tun, auch die Betreuung in den Betrieben soll besser werden. Das braucht Zeit. Denn bei mancher Verdi-Vorgängergewerkschaft hätten die Funktionäre im Büro gesessen und auf die Mitglieder gewartet. Neue Konkurrenten wie die Krankenhausgewerkschaft Marburger Bund, die die Tarifgemeinschaft mit Verdi verlassen hat und nun auf eigene Rechnung verhandelt, sieht Herzberg „natürlich mit Sorge. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir mit der Mächtigkeit unserer Organisation auf Dauer mehr für die Arbeitnehmer herausholen können.“ Doch die Mächtigkeit, das weiß auch Herzberg, hängt ab von der Mitgliederzahl.

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