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Wirtschaft: Die brauchbare Generation

Jürgen Schrempp ist 54.In der vergangenen Woche hat er den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere erreicht.

Jürgen Schrempp ist 54.In der vergangenen Woche hat er den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere erreicht.Er ist Vorstandschef des fusionierten Unternehmens DaimlerChrysler geworden."Ohne Schrempp", so urteilt ein Vorstandskollege, "wäre das alles nichts geworden." Ein Mann auf dem Gipfel der Macht, ein Macher.Im kommenden Jahr ist Schrempp reif für die Rente.

Horst Pieper ist 56.Er ist Reiseradler.Der Industriekaufmann aus Dinslaken am Niederrhein war einmal Projektmanager im Anlagenbau.Bis er in den Vorruhestand ging.Jetzt radelt er am (linken) Niederrhein und beschäftigt sich gelegentlich mit der lokalen Umsetzung der "Agenda 21".Er hat eine eigene Internetseite.

Hunderttausende von Menschen sind in den vergangenen Jahren in den Vorruhestand gegangen.Gegangen worden, sagt Frank Schmidt (Name geändert), der im Berliner Motorenwerk Marienfelde bei Daimler war."Ich habe Platz für Jüngere gemacht", erklärt Schmidt.Wenn die Alten länger arbeiten, heißt das in der Metallindustrie, daß ein Lehrling weniger einen Job bekommt.Er hätte schon länger arbeiten wollen, sagt Schmidt.Aber im Leben kann "man nicht alles machen, was man will."

Im vergangenen Jahr war in Deutschland nur ein gutes Drittel aller über 55jährigen berufstätig - in Norwegen arbeiten in diesem Alter noch zwei Drittel der Erwerbspersonen.Bevor sie zwanzig sind, fangen die wenigsten Schüler und Auszubildenden in unserem Land eine reguläre Beschäftigung an.Bei Schülern und Studenten mit höherer Schulbildung verschiebt sich der Start in den Beruf noch einmal locker um zehn weitere Jahre.

2,4 Millionen Beschäftigte könnten in den kommenden Jahren noch in den vorgezogenen Ruhestand wechseln, wenn die Rente ab 60 verwirklicht wird, meint die IG Metall.Das koste etwas mehr als 60 000 DM pro Kopf, und das lasse sich durch Ansparmodelle der Tarifpartner aufbringen.Das Schöne daran: Diese von den Älteren geräumten Stellen würden zum größten Teil wieder besetzt.Denn die Unternehmen hätten ihren Personalabbau inzwischen weitgehend abgeschlossen.Fast jeder, der heute geht, macht Platz für einen Neuen, sagt die Gewerkschaft.

Doch fast jeder, der heute geht, wird übermorgen fehlen.Er reißt Löcher in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung.Noch schlimmer: Er raubt einer Gesellschaft ihre Erfahrung, Unternehmen die Tradition, der Zukunft das Gesicht.Eine Horde von Yuppies produziert zwar wie verrückt - doch viele der Vorschläge für die Verbesserung von Maschinen und Anlagen kommen von den Älteren, sagt Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm, wenn er sich über die "Altersverschrottung" der Mittfünfziger aufregt, die er selbst in großem Stil ermöglicht hat.

Es sind nicht nur Erfahrung und Tradition, die die Unternehmen verlassen, wenn ganze Generationen vorzeitig ausgemustert werden.Eine Gesellschaft, die sich für ihre Bürger unproduktive Zeiten leistet, die weit über die Hälfte der Lebenserwartung hinausgehen, blutet aus und zerfällt.Finanziell und sozial.Und sie betrügt am Ende alle: die Älteren, weil sie weggeworfen werden, die Erbwerbstätigen, weil sie den sozialen Frieden mit immer höheren Beiträgen und Steuern erkaufen müssen.Und die ganz Jungen, weil sie mit Schulden auf die Welt kommen, bei der jede Schuldnerberatung schon am ersten Lebenstag zum Offenbarungseid raten würde.

Wer langsam in das Berufsleben hineingleitet - über arbeitsamtsfinanzierte Ausbildungsgänge, gestützte Praktika und lange Studienzeiten - und nach 25 bis 30 Jahren schon wieder hinausgleiten kann, kann in dieser Zeit vielleicht eine private Lebensversicherung ansparen.Aber er kann nicht für zwei weitere Generationen arbeiten und gleichzeitig ausreichend Kinder in die Welt setzen, um für Nachschub für das System zu sorgen."Wir können es uns nicht leisten, die Erwerbsphase durch längere Ausbildungs- und Rentenzeiten immer weiter zu verkürzen", warnt der Bremer Rentenexperte Winfried Schmähl.

Es sei im Gegenteil vernünftig, die Erwerbsphase auszudehnen - auch wenn diese Idee in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit unpopulär ist.Aus demographischen Gründen ist es trotzdem leichtsinnig, jetzt eine Stimmung zu erzeugen, als sei jeder über 50 verbraucht und für eine moderne Erwerbsgesellschaft untragbar.Je weniger Kinder geboren werden, desto weniger junge Menschen werden in den kommenden Jahren in den Beruf kommen.Desto stärker werden irgendwann die Alten wieder gebraucht.

Es sei denn, die Deutschen gleichen ihr Problem durch zuwandernde Ausländer aus, die in Deutschland arbeiten und in die Sozialkassen einzahlen, wie das der Kölner Autor Roland Tichy in seinem Buch "Ausländer rein" skizziert.Aber dieser Notausgang sei den Deutschen verstellt, warnte kürzlich der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU).Denn längst seien es nicht mehr Menschen mit denselben europäischen Traditionen und Werten, die die Deutschen vor dem sozialpolitischen Kollaps bewahren sollen: Weil in Europa überall dieselben Probleme bestehen, kämen die Zuwanderer künftiger Generationen aus fremden Regionen und brächten alle Probleme mit, mit denen die Deutschen schon jetzt kaum fertig würden.

Bleibt die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die im aktuellen Zielkonflikt zwischen der Beseitigung der Arbeitslosigkeit und der Behebung der Probleme in der Rentenkasse nur scheinbar zugunsten der Jüngeren entschieden wird.Viele der Älteren gehen nicht freiwillig.Sie werden mit Mitte fünfzig in den Ruhestand gedrängt, wenn sie sich selbst noch in den besten Jahren wähnen.Inzwischen haben viele der Betriebssiedlungen von Henkel in Düsseldorf, Siemens in Berlin oder Krupp in Essen Seelsorger, die sich um die sozialen und gesundheitlichen Probleme der Menschen kümmern müssen, die in den Hochglanzprospekten der Firmen glücklich mit ihren Enkeln auf der Schulter posieren.

Auf der anderen Seite gehen die besonders gern, die die Firmen besonders gern behalten hätten.Eine Erfahrung, die die Berliner Verkehrsbetriebe bereits Anfang der neunziger Jahre machten.Als nach der Wiedervereinigung die ersten großen Personalanpassungsprobleme die BVG drückten, erfanden ÖTV und Personalabteilung zusammen ein Vorruhestandsmodell.Das Problem: Hunderte von U-Bahnfahrern und Buschauffeuren verließen die BVG, die Verwaltungsleute dagegen blieben.

Ein Kind, das im Jahr 1996 geboren wurde, kam mit einem Schuldenberg von mehr als 26 000 DM zur Welt.Schulden, die es nicht gemacht hat.Schulden, die entstanden sind, weil sich diese Gesellschaft immer noch die Illusion leistet, "daß man Arbeit nur umverteilen muß", wie Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt moniert.

Damit ist es längst nicht mehr getan.Selbst wenn es ein konstantes Maß an Arbeit gäbe, das nur ständig auf die vorhandenen arbeitswilligen Köpfe verteilt werden müßte, würde das Geld, das die 25- bis 55jährigen erwirtschaften, nicht mehr reichen, um den Jüngeren und Älteren ein kommodes Leben zu ermöglichen.Es hilft alles nichts.In Zukunft müssen mehr Menschen länger arbeiten, um das System auch nur ansatzweise über die Runden zu bringen.Den Luxus, nur noch eine Generation volkswirtschaftlich für brauchbar zu halten, könne sich auf die Dauer niemand leisten, befindet der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen.Noch ein paar Jahre weiter so, und "zukünftige Erwerbstätige werden gezwungen sein, den Generationenvertrag zu kündigen".

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