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Wirtschaft: „Die Bürger verlassen sich nicht auf uns“

Der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister und SPD-Chef Harald Schartau über die Agenda 2010 und weitere Reformschritte

Herr Schartau, vor ein paar Monaten, nach dem SPDParteitag, meinten Sie, „wir sind jetzt gut in Schwung“. Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung?

Wieso Fehleinschätzung?

Haben Sie das Wahldebakel vom 13. Juni schon vergessen?

Nein. Aber für uns ist die Kommunalwahl im September in NRW der entscheidende Termin. Wir haben hervorragende Kandidaten und brauchen jetzt die notwendige Entschlossenheit, um den Spieß umzudrehen. Wir sind für die Kommunalwahl gut aufgestellt.

Diese Sicht dürfte ziemlich einmalig sein.

Sicher lassen einige nach dem letzten Wahldebakel die Flügel hängen. Aber was unsere faktische Aufstellung in den Kommunen anbelangt, bin ich unverändert optimistisch.

Sie haben gesagt, die Wähler müssten die Reformpolitik „am eigenen Leibe spüren“. Das tun die auch, aber ganz anders, als Sie meinen, denn Patienten, Rentner und Arbeitslose müssen mit weniger Geld leben.

Wir haben Reformen angepackt, für die man keinen Applaus kriegt und die viele als bitterste Pillen empfinden. Der Mut zu weiteren Reformen wächst aber nur mit dem Erfolg der bereits vollzogenen Reformen. Und wer den Leuten nicht die Möglichkeit gibt, positive Ergebnisse der Reformen zu erleben, sondern die Schlagzahl im Reformprozess noch erhöht, der schafft Verunsicherung und erschwert die Bedingungen für weitere Reformen.

Also erstmal eine Pause einlegen?

Nein. Wir haben aus tiefer Überzeugung einen Reformweg begonnen und wollen jetzt nicht wieder zurück.

Und wann und wie spüren die Leute den ersten Reformerfolg?

Es wurde eine Vielzahl von Problemen angepackt. Wir haben die Steuern durchgreifend gesenkt. Die Steuersenkung zu Beginn dieses Jahres ist aber in eine depressive Jammerstimmung gefallen und deshalb verpufft. Die Verunsicherung hat sich nicht aufgelöst, die Leute sparen das Geld. Deshalb ist die Auswirkung der Steuerreform nicht sichtbar.

Warum sitzen die Leute auf dem Geld?

Weil sie verunsichert sind und nicht wissen, was kommt. Und weil sie bis vor wenigen Wochen, jeden zweiten Tag einen neuen Vorschlag aus Berlin gehört haben, wie man den Menschen noch mehr Geld abnehmen kann. Alles in allem verlassen sich die Bürger nicht auf uns.

Wenn die Steuerpolitik nichts für die Nachfrage gebracht hat – wie erfolgreich sind Gesundheits- und Arbeitsmarktreform?

Im Gesundheitswesen zeigt sich eine Auswirkung, denn die Krankenkassenbeiträge sinken. Und auf dem Arbeitsmarkt führen unsere Reformen dazu, dass bei einem Anziehen der Konjunktur die Beschäftigungsschwelle nicht mehr so hoch liegen wird. Wir werden also auch schon bei einem geringeren Wachstum mehr Arbeitsplätze bekommen. Dies wird aber im Moment noch nicht sichtbar, weil die Konjunktur auf der Stelle tritt.

Und wann wird das sichtbar?

Ganz wichtig ist die Verlässlichkeit. Es darf keine Anhäufung von Veränderungsvorschlägen aus dem Kabinett kommen, die bei den Leuten den Eindruck hinterlassen, es kämen weitere Belastungen auf sie zu, ohne dass sie das Ziel dieser Maßnahmen erkennen können.

Also doch Reformstopp?

Was heißt denn Reformstopp?

Dass zum Beispiel das Thema Bürgerversicherung nicht angepackt wird.

Das ist Kokolores. Wenn ich binnen drei Tagen aus Berlin höre, es gibt womöglich eine Pkw-Maut und der Sparerfreibetrag steht zur Debatte, dann trägt das zur Verunsicherung bei. Davor müssen wir uns in Acht nehmen. Von einem Reformstopp halte ich aber gar nichts.

Was ist also mit der Bürgerversicherung?

Wir brauchen erstmal eine abgerundete, abgestimmte Vorstellung davon, was mit Bürgerversicherung gemeint ist. Und wir sollten in ein System, das viel Öl verliert, nicht einfach nur mehr Öl reinkippen, sondern unten die Schrauben zudrehen. Wenn ich ein solches Thema anpacke, dann muss dem ein Konzept zugrunde liegen, das die Leute überzeugt und nicht erschreckt.

Also besser die Finger davon lassen?

Nein. Die Partei muss sich aber erst darüber im Klaren sein, was sie will. Wenn das Thema kommt, dann bitte so, dass die Bevölkerung eine Chance hat, dafür Sympathie zu entwickeln, weil es schlüssig ist und weil man alle offenen Fragen beantworten kann. Andernfalls sollten wir es sein lassen.

Die Gewerkschaften fordern eine solidarische Bürgerversicherung mit dem Argument der sozialen Gerechtigkeit und regen sich auf, dass ein Einkommensmillionär im nächsten Jahr 67000 Euro weniger Steuern zahlt als 2004.

Sie vergessen, dass wir die Belastung kleinerer Einkommen viel stärker reduziert haben, als jede andere Regierung zuvor. Darauf sind wir stolz. Demnächst kann eine Familie mit zwei Kindern 39000 Euro verdienen, bevor sie überhaupt Steuern zahlen muss. Das schreiben wir auf unsere Fahne. Alles in allem verändern wir das Verhältnis vom Staat zum Bürger. Dazu gehört, dass wir weniger Steuern kassieren und Ausnahmen für Steuerbefreiungen zurücknehmen. Unsere Steuerpolitik ist sehr wohl gerecht.

Sie sagen selbst, die rot-grüne Reformpolitik müsse sozial ausgewogen sein. Wo sind denn die gröbsten Schieflagen?

Unsere Politik ist sozial ausgewogen. Ich lasse mir von niemandem den Begriff von sozialer Gerechtigkeit abnehmen.

Sie haben aber oft die Verdoppelung des Krankenversicherungsbeitrags auf die Betriebsrenten kritisiert.

Das ist der einzige Punkt. Dabei habe ich massiv kritisiert, dass die Leute keine Zeit hatten, sich darauf einzustellen. Es gab weder Vertrauensschutz noch Übergänge. Aber davon abgesehen gehöre ich zu denen, die die Agenda 2010 gefordert haben und den Sozialstaat umbauen wollen, um ihn zu erhalten.

Der Sozialstaat bröckelt. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern etwa bekommt ab Januar 57,70 Euro weniger im Monat.

Das Wichtigste ist doch etwas ganz anderes: Die Alleinerziehende bekommt ab Januar erstmals den Zugang zu allen aktiven Mitteln der Arbeitsmarktpolitik. Sie bekommt den Zugang zu einem Jobcenter, in dem geklärt wird, wo ihre Kinder bleiben, wenn sie arbeiten geht. Und sie wird ab Januar endlich merken, dass sie zwar bisher mit Geld in ihrer Schräglage alimentiert worden ist, ihr das aber nie wirklich auf die Beine geholfen hat.

Sie glauben nach den Erfahrungen mit der Reform der Bundesagentur für Arbeit, dass die Jobcenter ein paar Millionen Arbeitssuchende erfolgreich betreuen?

Ab Januar werden die Menschen, die mehr Probleme haben als den fehlenden Arbeitsplatz, aus einer Hand betreut. Seit Jahren geben wir denen Geld, weil uns nichts Besseres eingefallen ist.

Und das wird ab 2005 anders?

Ja. Die Langzeitarbeitslosen, die Stigmatisierten sollen endlich eine erstklassige Unterstützung kriegen.

Und dann ist die Betreuung erstklassig, aber es gibt trotzdem keine Arbeitsplätze.

Wir werden uns ab Januar zunächst auf die jugendlichen Arbeitslosen unter 25 Jahren konzentrieren. Für die wird es eine lückenlose Angebotspalette geben, die von Arbeit über mögliche Ausbildung und Praktika hin zu Lehrgängen geht und zu sonstigen Eingliederungsmaßnahmen. Jugendliche unter 25 gehen nicht mehr von der Arbeitsagentur weg, ohne ein Angebot zu haben. Das müssen sie dann aber auch annehmen.

Wenn zum 1. Januar Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden, sinken die Sozialleistungen allein in Berlin um 300 Millionen Euro. Ein schwerer Rückschlag für die Kaufkraft.

Das ist eine statische Betrachtung. Sie gehen davon aus, dass nur die Vermögensanrechnung funktioniert und nicht die Vermittlung von Erwerbslosen auf Grund der besseren Betreuung. Die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld II wird sich verringern, die Leute werden schneller eigenes Geld verdienen.

Wo finden die einen Job?

Die Bedeutung der Personal-Service- Agenturen (PSA) wird steigen. Wir brauchen auch weiter kommunale Beschäftigungsgesellschaften. Der Kern ist aber, die Leute, die bereits länger als ein Jahr arbeitslos sind, wieder auf ein Tempo zu bringen, das in den Betrieben verlangt wird. Es wird künftig mehr Kombinationen geben von regulärer Bezahlung und Transfereinkommen – im Ergebnis kriegen die Menschen wieder mehr Selbstvertrauen, weil sie Geld verdienen.

Und der Niedriglohnsektor wird größer?

Nein, der ist schon groß genug.

Das Gespräch führten Alfons Frese und Alexander Visser.

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