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Wirtschaft: Die Daumenschrauben liegen bereit

Die Arbeitszeit soll zunehmen, die Freizeit schrumpfen: Der mögliche Regierungswechsel heizt die Debatte um den Sozialstaat an

Berlin - Knapp drei Monate vor einem möglichen Regierungswechsel streiten Schwarz-Gelb und die Wirtschaft darüber, welche Ansprüche Arbeitnehmer aufgeben sollen. Grundsätzlich besteht Konsens, dass die Arbeitszeit wachsen soll, um die Arbeitskosten für Unternehmen zu senken – die konkreten Vorschläge sind jedoch umstritten.

Auf harsche Ablehnung auch bei Union und FDP stieß der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Otto Kentzler, mit seinem Vorstoß, Krankheitstage mit Urlaubstagen zu verrechnen. Die CDU-Chefin und Kanzlerkandidatin Angela Merkel sagte am Montag, ihre Partei werde den Vorschlag „mit Sicherheit nicht aufgreifen“. Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) kritisierte, solche Ideen seien „viel zu weitgehend und auch nicht angemessen“. Auch FDP-Chef Guido Westerwelle wies den Vorstoß zurück: „Urlaub ist Urlaub, und Krankheit ist Krankheit.“

Von SPD und Gewerkschaften kamen noch schärfere Töne. SPD-Chef Franz Müntefering konstatierte „ein bestimmtes Maß an Dreistigkeit“. Finanzminister Hans Eichel (SPD) sprach von Unfug: „Wir haben den niedrigsten Krankenstand seit Jahrzehnten in Deutschland, und irgendwo ist Schluss mit solchem Sozialabbau.“ Reinhard Dombre, beim DGB-Vorstand für Tarifpolitik zuständig, warnte vor Eingriffen in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. „Die Arbeitgeber treten in ein Wespennest“, sagte Dombre dem Tagesspiegel. Er erinnerte an die Proteste gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung durch Bundeskanzler Helmut Kohl im Jahr 1996. „Das Thema ist enorm mobilisierungsfähig.“

Zuspruch kam dagegen vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Die Streichung von Urlaubstagen sei ebenso denkbar wie längere Arbeitszeiten. Beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hieß es, mit einer Krankenstandsquote von 3,4 Prozent sei im vergangenen Jahr ein historischer Tiefstand erreicht worden. Jochen Pimpertz, Sozialexperte beim IW, verneinte aber einen Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit. So sei beispielsweise Ende der 90er Jahre die Arbeitslosigkeit gesunken, der Krankenstand aber auch. Dass sich weniger Arbeitnehmer krank melden, hänge mit anderen Faktoren zusammen: So arbeiteten immer mehr Menschen in weniger krankheitsanfälligen Dienstleistungsberufen. In der Industrie sei die Arbeit durch den Einsatz von Computern ungefährlicher geworden. Schließlich hätten sich in den vergangenen Jahren die Belegschaften verjüngt, sagte Pimpertz. Dennoch hält der IW-Experte die Einführung von Karenztagen für erwägenswert, um auch die Arbeitnehmer an der Finanzierung der Krankheitskosten zu beteiligen. Die Lohnfortzahlung bis zur sechsten Krankheitswoche habe die Arbeitgeber 2003 – neuere Daten liegen derzeit nicht vor – 29,4 Milliarden Euro gekostet. Dagegen seien für Krankengeld, das ab der siebten Woche gezahlt wird, nur sieben Milliarden angefallen.

Ferner rückte die Lebensarbeitszeit in den Blickpunkt. Mehrere CDU-Politiker forderten, das Rentenalter um bis zu zwei Jahre auf 67 zu erhöhen. Auf Regierungsseite heißt es dagegen, nötiger sei es, das tatsächliche Rentenalter von derzeit rund 60 Jahren näher an das gesetzliche Rentenalter heranzuführen.

Der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer sprach sich vehement gegen die verschiedenen Forderungen zum Abbau von Sozialleistungen aus. „Sozialabbau schafft keine Arbeitsplätze“, sagte er dem Tagesspiegel. Dies hätten die letzten zehn Jahre bereits eindeutig belegt. In dieser Zeit seien Arbeitnehmerrechte gekürzt und Sozialleistungen eingeschränkt worden, die Arbeitslosigkeit sei heute dennoch so hoch wie nie zuvor. Politiker, Wissenschaftler und Interessenverbände, die jetzt weitere Einschnitte forderten, bezeichnete Seehofer als „Hüter einer Irrlehre, deren Grausamkeiten das Land keinen Millimeter voranbringen“.

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