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Wirtschaft: Die große Flucht vor dem Rubel

MOSKAU .Als der Rubel zu stürzen begann, funktionierten die alten Reflexe wie in früheren Jahren.

MOSKAU .Als der Rubel zu stürzen begann, funktionierten die alten Reflexe wie in früheren Jahren.Galina Sardowa nahm ihren Mann an die Hand, stürmte ihre Bank und hob ihr gesamtes Rubel-Vermögen ab.Mit dem Geld in der Tasche führte ihr Weg direkt zum nächsten Autohändler am Moskauer Gartenring.Nur eine Stunde später befanden sich beide im Besitz eines Kleinwagens der Marke Oka für den Rubel-Gegenwert von rund 4000 Dollar.Ein Freund fuhr den Wagen schließlich vom Autohaus vor die Wohnung der beiden.Denn Galina und ihr Mann Oleg haben nicht einmal einen Führerschein.

Verrückt? Eigentlich schon, nicht aber in Rußland.Die Endvierzigerin Galina hat den Mangel der Sowjetära noch genauso lebhaft in Erinnerung wie die Inflationswellen der 90er Jahre.Der einzige Schutz gegen Wertverlust sind Dollars oder Eigentum.Und so liefen gerade die Älteren nach der Rubel-Abwertung in die Läden und kauften, was teuer und einigermaßen wertbeständig aussah, Autos und Juwelen, Stereo-Anlagen und Computer.Wer nicht schnell genug reagierte, der darf nun mitansehen, wie seine Ersparnisse verfallen, sofern er sie überhaupt noch in die Hand bekommt.

Auch Iwan Norikow ist ein krisenerfahrener Moskauer.Doch ihn erreichte die Rubel-Krise just in einem Augenblick, als er sich im Ausland aufhielt.Wieder in Moskau, gelang es Norikow nicht einmal, in die Schalterhalle seiner Bank vorzudringen.Erst jetzt, nach dem Abflauen der Panikstimmung, konnte er mit einer Bankangestellten sprechen.Die tippte seine Kontonummer in den Computer und bestätigte mit einem freundlichen Lächeln die Existenz von einigen tausend Dollar und D-Mark.Abheben durfte er sie nicht.Das Geld sei eingefroren, hieß es, aber vielleicht gebe es im November eine Möglichkeit.Dann solle er wiederkommen.

Iwan Norikow lacht noch, wenn er seine Geschichte erzählt.Weniger lustig finden jedoch die Eltern von Jelena Lebjedewa die jüngste Entwicklung.24 000 Rubel, rund 7200 DM, hatten sie ihrer Bank anvertraut, die mit hohen Zinsen lockte.Jetzt aber können sie schon mal die Hälfte ihrer Ersparnisse abschreiben.Denn selbst wenn sie das Geld zurückerhalten sollten, hat die Abwertung mindestens 50 Prozent des Wertes vernichtet.

Eine bittere Wahrheit für viele Russen.Auch wenn mindestens 20 Mrd.Dollar in bar bei der russischen Bevölkerung vermutet werden, so hatte die Stabilität des Rubel zuletzt doch schrittweise Vertrauen produziert.Bei fallenden Inflationsraten und sogar einer Rubel-Reform, bei der die einheimische Währung drei Nullen verlor und beinahe seriös zu werden begann, waren mehr und mehr Russen das ständige Geldwechseln leid.Zudem wurden die Geschäfte verpflichtet, nur noch Rubel als Zahlungsmittel anzunehmen.So legte eine langsam aber stetig wachsende Zahl der Bürger ihr Geld in Rubel an, erntete Zinsen und sparte sich die Kursverluste, die durch den Umtausch in den Wechselstuben entstanden.Doch nun sind jene, die den Beteuerungen von Regierung und Zentralbank vertraut hatten, es werde in keinem Fall zu einer Abwertung kommen, wieder einmal die Dummen.

Wer heute Moskaus Geschäfte besichtigt, kann die veränderte Realität leicht erkennen.In den Metro-Passagen, einst beliebter Einkaufsplatz für Hauptstädter mit eher bescheidenen Ressourcen, sind viele Pavillons geschlossen, die Regale leer.Regelrecht gestürmt worden sind die Apotheken der Hauptstadt, deren Anteil an Importwaren mit 60-80 Prozent besonders hoch ist.Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow sah sich Ende vergangener Woche gezwungen, vor die Presse zu treten und die Menschen zu beruhigen."Die Versorgung der Hauptstadt ist gesichert", sagte der populäre Politiker.Man habe genügend Reserven für Notzeiten angelegt.Dazu zeigte er einen Zettel, auf dem die Bestände an Zucker, Öl, Butter, Trockenfisch und Schweinefleisch aufgelistet waren."Wir werden Sie nicht belügen, sondern wir werden Ihnen genau sagen, wie die Lage ist".

MARKUS ZIENER (HB)

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